Ich bin Amerika

Eine Geschichte mit Nachgeschmack von E.R. Frank

Es gibt Bücher, die schiebt auch der hungrigste Bücherwurm ein bisschen angeödet auf dem Teller hin und her, als handle es sich dabei um ein Stück Leber, Spinat oder rote Beete. Es sind genau solche Bücher, die sich Deutschlehrer für den Unterricht in der Mittelstufe aussuchen, sie zur Pflichtlektüre machen und so lange hin und herwälzen und von allen Seiten durchleuchten, dass man das Buch für schätzungsweise die nächsten 38 Jahre nicht mehr wieder sehen möchte. Und es gibt Bücher, die schlingt man hinunter, weil sie mitreißend sind, weil sie einen interessieren, weil man mitfiebert.

Bei „Ich bin Amerika“ von der Autorin E.R. Frank ging es mir so, dass ich es an einem Abend „hinuntergeschlungen“ hatte, aber noch lange nachdem ich mit dem Buch fertig war, daran zu kauen hatte. Es ist ein Buch mit einem nachdenklichen Nachgeschmack.

*Darum geht es*
"Amerika" heißt der Junge, um den es hier geht und er ist weder schwarz noch weiß. Seine wirkliche Mutter ist cracksüchtig und hat ihn weggegeben. Seine Pflegefamilie wollte ihn in dem Moment nicht mehr, als sie festgestellt hatte, dass er kein Weißer ist. Die freundliche Mrs. Harper nimmt ihn schließlich zu sich und bei ihr verbringt er eine kurze, glückliche Zeit – bis er seine Mutter besuchen soll.
Nur ein Wochenende sollte er bei ihr verbringen, doch sie verschwindet und lässt ihn mit seinen beiden gewalttätigen Brüdern Brooklyn und Lyle zurück. Für Mrs. Harper ist er wie vom Erdboden verschluckt, niemand außer Amerika weiß, wo er eigentlich ist. Zu dritt schlagen sich die drei Jungen durch und als Amerika schließlich von der Polizei aufgegriffen wird, ist er zehn Jahre alt.
Als er zurück zu Mrs. Harper kommt, hat sich einiges verändert: Mrs. Harper ist krank geworden und ihr Halbbruder Mr. Browning wohnt nun im selben Zimmer wie Amerika.
Browning, der zuerst so etwas wie „der große Kumpel“ zu sein scheint, wird mir der Zeit immer aufdringlicher. Es beginnt damit, dass er Amerika anhand von Karten mit Schimpfworten das Lesen beibringen will und endet damit, dass er Amerika sexuell missbraucht und ihm weitere Gewalt androht, wenn er Mrs. Harper davon etwas erzählt.
Anfangs kann Amerika sich noch in seine Fantasiewelt flüchten, auf den Mount Everest, doch als Brownings Übergriffe immer schlimmer werden, sieht der Junge keinen anderen Ausweg, als wegzulaufen, und bevor er davonläuft, zündet er das Bett mitsamt Browning an.
Die nächsten Jahre verbringt er auf der Straße und schließlich bei dem Skater Ty, bis ihn die Polizei aufgabelt und er schließlich mit seinem Therapeut Dr. B seine Vergangenheit aufarbeitet.

*Sprache und Schreibstil*
Man bekommt die Erlebnisse von Amerika nicht in chronologischer Erzählweise, sondern Stückchen für Stückchen erzählt. Dabei gibt es verschiedene Erzählabschnitte, die sich nicht nur durch die Erlebnisse, sondern auch durch die Sprache unterscheiden.
Da gibt es die Abschnitte, die mit „Jetzt“ überschrieben sind. Sie sind aus der Sicht des 15 Jahre alten Amerikas geschrieben, einem Amerika, der schon ein hartes Leben hinter sich hat. Diese Kapitel zeichnen sich vor allem durch Jugendsprache und insbesondere durch den häufigen Gebrauch des Wortes „Scheiße“ aus, trotzdem gibt es auch viele nachdenkliche Phasen, die ziemlich gut gelungen sind („Hier musst du aufpassen, was du sagst, weil alles, was du sagst etwas bedeutet, und es gibt immer jemanden, der dir sagt, was du meinst“). Dann gibt es immer wieder Rückblenden, teilweise als kurze Gedankenfetzen, teilweise als komplette Rückblenden, die mit „damals“ überschrieben sind. Die Sprache in den „Damals“-Rückblenden ist jedoch dem Erzähler angepasst, also die eines recht gut erzogenen Siebenjährigen. In den späteren "Damals"-Kapiteln wird er jedoch mehr und mehr wie seine Brüder, prügelt sich mit ihnen, bestiehlt Leute auf der Straße und verändert sich immer mehr, auch von der Sprache her, die er verwendet.
Insgesamt kann man sagen, dass die Autorin ihr Handwerk versteht und mit dem Schreibstil die sich wandelnde Persönlichkeit von Amerika sehr gut unterstreicht.

*Mein Fazit*
Wenn ich die Frage beantworten soll, ob mir das Buch gefallen hat, würde ich spontan mit einem "jein" antworten und zwar aus dem folgenden Grund: Mir gefällt die Erzählweise und der Schreibstil unheimlich gut, es gibt Passagen, die ich mir am liebsten über mein Bett hängen möchte – aber ich habe das Problem, dass mir Amerikas Probleme quasi wie ein Big Mäc unter den Problemgeschichten vorkommt. Manchmal ist es einfach zuviel des Guten – oder in diesem Fall, zuviel des Schlechten. Während man liest, fällt es nur an einigen Stellen auf, aber wenn man hinterher noch mal alles aufzählt, wird die Reihe ziemlich lang:
Amerika hat Depressionen, Probleme mit seiner Hautfarbe, kennt seinen Vater nicht, hat eine cracksüchtige Mutter, hat auf der Straße gelebt, musste eine Sonderschule besuchen, wurde vergewaltigt, ist weggelaufen und hat fast ein Jahr am Stück bei einem merkwürdigen Skater gelebt und dort pausenlos geweint, wollte sich umbringen, hat Probleme mit seiner Sexualität (ein kleiner Teil des Buches beschäftigt sich damit, ob er nun auf „Titten oder Schwänze“ steht) hat natürlich auch Probleme mit seiner Freundin und überhaupt, irgendwie geht bei ihm alles schief. Hier hätte es auch vollkommen ausgereicht, sich auf ein oder zwei Dinge zu konzentrieren und dafür etwas mehr Arbeit in einige Nebencharaktere zu stecken, z.B. Amerikas Freunde in dem Heim Applegate sind meiner Meinung nach ein wenig zu kurz gekommen. Trotz dieser übertriebenen Problemanhäufung halte ich „Ich bin Amerika“ für ein gelungenes Jugendbuch und kann es jedem empfehlen, dem nicht nur die Geschichte, sondern auch der Schreibstil beim Lesen wichtig ist.

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Autorin / Autor: Yalda - Stand: 14. September 2005