Laub

Einsendung zum Wettbewerb #netzheldin von Franka, 24 Jahre

Am Rand der Landschaft stand sie und schaute voraus in die See.
Das also war das Ende.
Die Reise war vorüber.
Und was war es noch gleich, das ihr am besten gefiel? Wer eine Mütze trägt, der rechnet mit Kälte. Und kalt hatte es werden sollen.
Sie war nicht gegangen, um Urlaub zu machen. Das war ein Plan, der aufging.
Sie war prosaisch aufgebrochen, um jetzt nicht viel anders hier anzugelangen.
In ihrem Rucksack lag klamme Kleidung, dazwischen Brote, ein dickes Buch. An den Füßen Schwielen und Hornhaut, die vorher nicht dagewesen sind.
Ihr Blick senkte sich auf die Kante zwischen Land und Wasser. Weiter ging es also nicht. Vom einen Ende war sie zum andern gelaufen. Nun war Kreativität gefragt, um erneut das Register zu wechseln. Wohin?
Es tat sich wenig. Die Welt wogte stumm vor ihr her vor sich hin. Das Versprechen eines entscheidenden Zeichens – es hatte sich nicht eingelöst. Und dabei blieb es bis zum Schluss. Dass ihr Herz weiter schlug, dass sie weiter dachte, dass sie gesund war und Zeit übrig hatte, das war ihr Problem.
Sie griff in ihre Taschen. Leer.
Zwei leere Taschen am Ende des Wegs.
Welche Geschichte, dacht sie, ließe sich davon erzählen? Einmal mehr suchte sie nach einer Form, die ihr Leben in Teile schnitt. Einzelne, abgeschlossene Teile mit halbwegs sinnvollen Übergängen. Eine neue Anordnung eigener Erlebnisse, die das Atmen erträglicher macht. Ein neuer Anfang, eine neue Mitte und nicht zuletzt ein neues Ende.

Sie atmete ganz in Ruhe ein.
Einfach einströmen lassen. Einfach alles einströmen lassen. Ganz tief.
Genau.
Das ist doch schon mal gar nicht... nichts.
Das ist doch schon mal... was.
Das ist doch schon mal immerhin ein Anfang.
Und das ist ja das Schwierigste.
Aber wenn schon mal ein Anfang gemacht ist, kann man auch gleich weitermachen. Das ist aber das aller Schwierigste.
Vom Anfang weiter bis zur Mitte.
Und dann auch noch bis zum Ende...
Da ist Anfangen ja eigentlich noch am leichtesten.

Wie es war, bevor sie einatmete, wie es gewesen ist, sie sagt es wie sie es hörte. Sie sagt es, wie sie es übte. Sie atmet ein und erinnert sich, sie atmet aus und erzählt. Sie sagt, dass, wenn es ums Einatmen geht, es auch ums Erinnern gehen müsste. Das sagt sie, wie sie es hörte und wie sie es gerade wieder hört, gesprochen aus ihrem eigenen Mund.

Obwohl man sagen kann, wenn man will, dass, wenn es ihre Erinnerungen wären ... wenn sie ihre Erinnerungen sagte ... sie hier erzählte ... dass selbst dann ... und das eben kann man lernen ... dass selbst dann in Frage steht ... sie kann es gerade nicht besser sagen ... dass selbst dann in Frage stünde ... ob es ihre Erinnerungen wären ... wenn sie von ihnen erzählte.

Dass selbst, wenn es ihre Erinnerungen wären ... selbst wenn sie von ihnen erzählte ... sie kann es gerade nicht besser sagen ... dass selbst dann nicht sicher ist ... nicht sicher wäre ...

dass selbst dann nicht sicher wäre ... sie kann es gerade nicht besser sagen ... von wem die Erinnerungen wirklich wären.

Zum Beispiel einmal...
Einmal...
Einmal...

Einmal stand sie auf dem Schulhof. Das ist viele Jahre her. Und sie stand da nicht alleine. Sie stand da zusammen mit anderen. Es war Herbst und ein großer Haufen Laub lag da. Ein großer Haufen Laub im Herbst, in saftigen Brauntönen abgestuft: Dunkelbraun, dunkles Dunkelbraun, helles Dunkelbraun. Braun, dunkles Braun, helles Braun. Hellbraun, dunkles Hellbraun, helles Hellbraun. Und in Braun reichendes Gelb. Um nur die auffälligsten zu nennen.

Sie darf die Geschichte nicht auf einmal erzählen.
Sie muss dazwischen Pausen machen.

Sie stand im Herbst auf dem Schulhof vor einem großen Haufen Laub in endlosen Braunschattierungen. Sie war nicht allein. Die übliche Clique, wie man so sagt. Sie standen da und eine Lust überfiel sie, eine einfache, schwer erklärbare Lust. Anlauf nehmen und springen, mit Anlauf in den Laubhaufen springen. Eine einfache, schwer erklärbare Lust.

Nicht alles auf einmal.
Langsam.
Sie muss dazwischen Pausen machen.

Diese einfache, schwer erklärbare Lust ... sie wollten in den Laubhaufen springen ... sie wollen alle zusammen springen... die übliche Clique und sie gemeinsam ... Anlauf nehmen und springen ... sich suhlen im matschigen Laub ... niemand kann sich daran erinnern ... genau so ist es damals gewesen ... sie spüren, sie sind nicht allein ... sie spüren, sie alle wollen springen ... sie alle wollen sich suhlen im Laub ... sie nehmen gemeinsam Anlauf ... die übliche Clique mit ihr gemeinsam ... sie nehmen die ersten Schritte ... sie sind schon über den Anfang hinaus ... sie sind in der Mitte ... sie sind schon fast im Laubhaufen ... sie sind viele ... sie wollen alle gemeinsam springen ...

Sie will, dass alle es wollen. Nach ein, zwei Schritten läuft keiner mehr mit. Nur noch sie. Aber sie stoppt nicht. Geradewegs zu auf das Laub. Und alleine springt sie. Und alleine landet sie. Im Haufen, der wesentlich weicher aussah. Im dreckigen braunen Laub. Im dreckigen braunen Herbst. Und liegt da mit dümmlichem Grinsen. Vor der üblichen Clique. Die Geschichte ist fertig. Wieder ist eine Geschichte fertig.

So wie es war erzählt sie es.
Sie sagt es, wie sie es hörte.
Sie sagt es, wie sie es übte.
Sie sagt es, wie sie sich erinnert.
Erst mal ganz in Ruhe Ganz in Ruhe einatmen.

Sie hat den Anfang überstanden.
Der Anfang liegt deutlich hinter ihr.
Als sie anfing einzuatmen, lag der Anfang noch nicht weit zurück.
Da war sie noch im Aufbruch.
Da hatte sich alles grad erst entwickelt.
Aber irgendwie ist sie dann, ohne es recht zu merken, vom Anfang in die Mitte gerutscht.
Sie hat es gar nicht richtig gemerkt.
Es hat sie einfach mitgerissen – und dann ist sie unaufmerksam geworden.
...
Kein Wunder, bei dieser Geschichte.
...
Jetzt ist sie mitten in der Mitte.
Sie ist stets in der Mitte gewesen.
Das sagt sie, wie sie es hörte und wie sie es gerade wieder hört, gesprochen aus ihrem eigenen Mund.
Sie befindet sich in der Mitte.
An den Anfang kann sie sich nicht erinnern.

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