Wenn das Leben dir Zitronen schenkt

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

„Wenn das Leben dir Zitronen schenkt, mach Limonade draus!“, das hatte mein Vater immer gesagt. Früher als er noch anders war. Fröhlich und chaotisch. Früher, als es Gemma noch nicht gab. Als wir eine glückliche Familie gewesen waren. Doch als meine Mutter starb und mein Vater sich diese neue Frau genommen hatte, da hatte alles sich verändert. Seitdem hingen kein einziges Mal mehr die Jacken unordentlich am Hacken, die Wäschetonne lief nicht mehr über, und... Irgendwann war dann Bello, der blöde Hund, dazu gekommen inklusive meiner zwei Halbgeschwister. Gemma wollte die perfekte Familie. Seit dem sie in unsere Wohnung eingezogen war, war der Boden immer blitzblank gewesen, alles sauber und aufgeräumt. Dann waren Fotos dazu gekommen. Tag für Tag neue. Sie hatte den gesamten Flur mit Fotos zugeklebt. Von Noah und Sara, von ihr… Sie alle hingen um ein großes Familienbild herum. Auf dem ich nicht abgebildet war. Mein Zimmer hatte ich abgeben müssen, als Sara geboren worden war. Mein neues, sehr kleines Zimmer, war so karg eingerichtet, dass es auch ein Gästezimmer hätte sein können. Nichts deutete darauf hin, dass ich dort lebte. Ich störte Gemma in ihrer Vorstellung von ihrer perfekten Familie, also hatte sie mich irgendwann einfach als Kindermädchen abgetan.

„Wenn du jeden Tag drei Stunden lang auf die Kinder aufpassen könntest, könnte ich dein Taschengeld ein wenig aufbessern!“, hatte sie gesagt. Ich bekam gar kein Taschengeld. Und mein Vater? Der arbeitete den ganzen Tag und kümmerte sich einen Dreck für das Kind seiner ersten Ehefrau. Über die es auch keine Hinweise gab, dass es sie jemals gegeben hatte.
Über uns wohnte eine alte Dame, die weder mit uns sprach, noch uns überhaupt ansah. Aber vielleicht war ich auch noch nie wirklich offen für neue Bekanntschaften gewesen.
Aber heute, heute war ein völlig anderer Tag gewesen. Ich hatte an das Zitat denken müssen, das von meinem Vater stammte, seinen früheren Leitspruch, den er ebenfalls aus seinem jetzigen Leben gestrichen hatte. Es war Dienstag, ich saß vor der Tür und reckte mein Gesicht in die Abendsonne, als sich die alte Frau mit zwei schweren Einkaufstaschen die Hofeinfahrt hinaufschleppte. Ihr schmaler, zittriger Körper schien fast einzubrechen unter der schweren Last. Es war eher ein innerer Impuls, der mich dazu drängte, aufzustehen und auf die Frau zuzugehen, mit der ich schon seit Jahren in einem Haus wohnte und deren Name ich immer noch nicht kannte.
„Guten Tag, kann ich Ihnen was abnehmen?“, fragte ich sie und sie schaute mich aus ihren alten, müden Augen verblüfft an.
„Dass ich das noch einmal erlebe“, krächzte sie „die verwöhnten, jungen Gören wollen jemanden helfen.“
Unwillkürlich musste ich lächeln. Sie hatte doch Recht. Jugendliche waren doch tatsächlich fast ohne Ausnahme nur auf sich beschränkt. Mit einem ziemlich kleinem Horizont.
„Ich frage mich einfach, wie Sie es mit den zwei schweren Tüten die Treppe hinaufschaffen wollen!“, antwortete ich.
„Das hat schon immer geklappt und jetzt wird es auch noch klappen!“, meinte sie und wollte sich an mir vorbeidrängen.
„Kommen Sie, ich nehme Ihnen die jetzt ab!“, ich griff nach den Henkeln der Stofftasche und nahm sie ihr widerstandslos aus der Hand.
Sie sah mich misstrauisch an und bemerkte dann wohl, dass ich wirklich kein Geld wollte.
Sie nickte langsam. „Gut, aber sag mir vorher bitte erst, wie du heißt!“
„Leonie“
„Leonie“, murmelte sie leise und ging mir langsam hinterher, als ich die Tür aufstieß und meinen Fuß dagegen stemmte, um sie auch noch hineinzulassen.
„Und Sie?“, fragte ich dann ebenfalls nach, als wir uns im Treppenhaus befanden.
„Störl, Brigitte Störl!“, erwiderte sie.
Ich nahm die letzte Treppenstufe zum obersten Stockwerk und stellte die Taschen vor ihrer Haustür ab.
Die Alte griff hastig in ihre Handtasche und suchte mit zittrigen Fingern den Haustürschlüssel heraus. Schnell schloss sie die Wohnungstür auf, schnappte sich die Taschen und wollte mir gerade die Tür vor der Nase zuschlagen, als ihr wohl einfiel, dass ich dort noch auf ihrer Fußmatte stand.
„Willst du noch hineinkommen… ähh… Leonie?“, sprach sie zögerlich.
„Gerne.“, sagte ich und huschte an ihr vorbei.
Die Wohnung war kleiner als unsere und ordentlich aufgeräumt.
„Möchtest du… einen Keks?“, wollte sie von mir wissen. Dafür war ich zwar eigentlich zu alt, aber einen Keks wollte ich trotzdem gerne, also nickte ich.
Schnell verschwand sie in der Küche. Neugierig sah ich mich um. Es hingen ein paar Fotos an der ansonsten kahlen, weißen Wand. Es gab keinen Flur und man kam direkt in kleine Wohn- und Esszimmer, in dem eine geblümte, verblichene Couch, ein kleiner Tisch, ein altmodischer Fernseher und ein Esstisch und zwei Stühle standen. Auf dem Tisch standen zwei Teller, ein fast leerer, auf dem sich nur noch ein paar Essensreste befanden und ein randvoller, doch das Essen schien schon lange kalt geworden zu sein. Erwartete die Dame etwa noch Besuch?
In diesem Moment kam sie wieder ins Zimmer und reichte mir einen Teller voll Plätzchen.
Ich dankte kurz und nahm mir eins der Gebäcke.
„Erwarten Sie noch Besuch?“, ich deutete auf das Essen. Frau Störl schüttelte den Kopf und sah verärgert auf ihre Taschenuhr.
„Ich warte auf meinen Mann. Er sollte eigentlich schon seit einer Stunde hier sein, aber er ist mal wieder zu spät. Typisch. Er arbeitet einfach immer viel zu lange.“
Jetzt fielen mir auch die Männerschuhe auf, die feinsäuberlich an der Wand standen. Doch ich hatte noch niemals einen Mann in diesem Haus gesehen.
„Ich muss dann mal ins Bad. Du entschuldigst mich kurz?“, mit diesen Worten stand Frau Störl auf und ging in eines der angrenzenden Zimmern.
Mein Blick fiel auf einen der Bilderrahmen, der etwas zurückgedrängt auf einer Kommode stand. Es sah auch von weitem nicht so aus wie ein ganz normales Foto, eher wie ein kurzer Text oder ein Zeitungsausschnitt.
Ich wusste, dass es sich nicht gehörte, aber ich wollte wissen, was auf dem Bild abgebildet war.
Als ich dann davor stand, wusste ich, dass ich Recht mit meiner Vermutung hatte. Es war ein alter, zerknitterter Ausschnitt aus der Zeitung. Er sah so aus, als hätte jemand stundenlang darüber geweint.
Zwei betende Hände waren darauf abgebildet.

Sebastian Störl
*19.04.1934
+27.11.2004

Es trauern in Liebe
Brigitte Störl, liebende Ehefrau
Ben und Lea Störl

„Was guckst du da?“, Frau Störl! Ich schoss herum.
„Ich… “, ich ballte meine Hand zu einer Faust und sprach es einfach gerade heraus hinaus: „Es tut mir Leid Frau Störl, aber Ihr Mann ist tot. Und das schon seit neun Jahren!“

Ich schloss die Wohnungstür auf. Die alte Dame von oben hatte mir erst kaum geglaubt. Ich hatte ihr erst das Foto zeigen müssen, bis ich sie überzeugt hatte. Dann war sie kreidebleich geworden. Wir haben noch eine ganze Weile geredet und sie hat mir viel von ihrem Leben früher erzählt. Plötzlich, hatte sie sich an vieles wieder erinnert, hat sie gesagt. Wahrscheinlich war die Frau demenzkrank.
Ich ging ins Wohnzimmer und stieß auf meinen Vater, der zusammengesunken auf der Couch saß.
„Die Frau von oben, wir müssen ihr helfen!“, schoss es aus mir heraus. Mein Vater sah auf und blickte mich mit müden Augen an.
„Leonie. Die Alte ist nur etwas allein. Mach dir keinen Kopf!“
In diesem Moment riss in mir irgendetwas. Dad würde nie wieder der Alte werden. Mir wurde bewusst, dass nie mehr alles so werden würde wie früher. Ich ließ meinen letzten Strohhalm los. Endlich. Denn es fühlte sich gut an.
Meine Stimme aber zerschnitt scharf und kalt den Raum: „Frau Störl!“, sagte ich „Brigitte Störl!“
Ich drehte mich um und rannte in mein Zimmer. Mein Vater kam mir nicht nach.
Ich würde öfter nach der alten Dame sehen. Sie war allein, ich war allein. Und ich hatte nicht vor, sie dort oben alleine versauern zu lassen! Das Leben hatte mir eine Zitrone geschenkt. Und ich würde Limonade daraus machen!

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

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Worum geht es im "Wissenschaftsjahr 2013 - Die demografische Chance"?

Die Siegerehrung zum Wettbewerb "U20-Ü60"

Es war schwer, aber die Jury hat entschieden...

Autorin / Autor: von Linda, 13 Jahre