Geschichte unserer Welt

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

Meine Haare kleben strähnig und feucht an meinen geröteten Wangen. Vorsichtig ziehe ich ein dünnes Buch aus dem gewaltigen Stapel vor meiner Nase. Geschichte unserer Welt lautet der Titel. Frustriert schlage ich den dunkelblauen Einband auf, die erste Seite blitzt mir sauber und unberührt entgegen. Mein Atem geht schneller, während ich die nächste Seite umblättere. Schritt für Schritt, Jahr für Jahr arbeite ich mich durch das Buch, durch meine Vergangenheit. Der II. Weltkrieg zieht seine Bahnen durch meinen Geist, führt mich weiter bis ich, endlich, das Jahr 2150 erreiche. Diese Seite ist schwarz. Pechschwarz und dunkel, wie das Unglück, welches die Menschheit in diesem Jahr überfiel und an ihnen heften blieb, wie klebriger Honig. Ich spüre meinen Puls steigen, meinen Atem schneller werden. Beim hastigen Umblättern verknicke ich unbewusst die glatten, schwarzen Seitenränder. Dann tauche ich ein in die Vergangenheit, zurück zu dem Tag meines 16. Geburtstags.
 


Wütend schlage ich das Geschichtsbuch zu, so stark stürzen die Erinnerungen auf mich ein. Mein Vater, Christopher, der die Bombenanschläge auf die Schulen veranlasst hatte, die Rede meiner Mutter Johanna… Schnell springe ich auf, reiße die Tür zu meinem Haus auf und stolpere fast über eine goldene Taschenuhr, die genau vor meinem Briefkasten liegt. Obwohl ich keine Ahnung habe, wie die Uhr ihren Weg zu mir gefunden hat, hocke ich mich an den Tisch und beginne damit, die Uhrzeit richtig einzustellen.

Plötzlich spielt die Datumsanzeige der Uhr verrückt. Ohne mein Zutun zählt das Gerät die Tage, Wochen, Jahre rückwärts, bis es schließlich am 16.06.2150 angelangt ist. Der Tag der Rede meiner Mutter, dem Tag vor dem Ende der Welt. Dann wird mir schwarz vor Augen.

Stell dir vor, du bist der letzte Mensch auf dieser Welt.
Stell dir vor, nach dem Tod aller anderen Menschen, hat sich die Erde wieder erholt.
Stell dir vor, du kannst jedes Buch lesen, wann und wie oft es dir gefällt? Nie mehr zur Schule gehen. Dein eigenes Leben leben, ganz ohne Probleme, nur eben alleine. Könntest du das? Kannst du es dir auch nur vorstellen?
Stell dir vor, du bist wie ich. Gefangenen in einer wunderschönen Welt., aber du bist ganz allein…
..und stell dir vor, es klopft dann an der Tür.

Oh mein Gott. Schießt es bei dem Geräusch durch meinen Kopf. Die Armbanduhr liegt locker in meiner Hand. Das Klopfen an meiner Tür wird lauter. Angst steigt in mir auf. Mühsam, da mein Kopf noch immer schmerzt, stehe ich auf. Dabei stütze ich mich mit meinem ganzen Gewicht an der Wand ab. Ich schlurfe langsam zu der Tür und drücke dann vorsichtig die Klinke runter. Vor der Tür steht meine Mutter. Lebend, aber mit einem wütenden Ausdruck im Gesicht. „Bist du etwa noch immer nicht fertig?“ Ruft sie. Thomas wartet unten auf dich! Ich weiß im ersten Moment gar nicht, wer Thomas ist, so perplex bin ich von dem Auftauchen meiner Mutter. Ich muss in der Zeit gereist sein! Durchfährt es mich. Die UHR! Ich greife langsam in meine Jackentasche, das kalte Metall brennt auf meiner Haut.

Doch die Zeiger stehen still. Ich weiß nicht wie das passiert ist, aber… Ich fasse einen Entschluss. Mit dem Gedanken an all die Jahre der Einsamkeit, fasse ich den Entschluss, das Ende der Welt zu verhindern. Wenn nötig werde ich die Raketen vernichten, die mein Vater abgefeuert hat. Denn, Schuld an dem Weltkrieg war nicht irgendein Politiker, nein, es war mein Vater. „Ja, Mama. Ich komme!“, sage ich mit fester Stimme, ziehe ein enges schwarzes Kleid aus dem Schrank und eile hinter ihr die Treppe hinunter, an deren Ende mich Männer in Uniform erwarten. Meine schwarzen Lackpumps graben Furchen in die hölzerne Treppe, doch ich ignoriere die wütenden Ausrufe meines Vaters. Christopher schreit mir irgendetwas ins Ohr, aber ich eile erhobenen Hauptes an ihm vorbei zu den uniformierten Männern in der Tür, die mich am Arm packen und zu dem Platz fahren, auf dem meine Mutter ihre Rede halten wird.
Auf dem Platz wimmelt es von Menschen. Die meisten sind Politiker oder andere führende Persönlichkeiten, zumindest sind sie alle älter als ich. Jeder schaut auf, lächelt mich mit einer boshaften Distanziertheit an, dass mir flau im Magen wird. Kaum habe ich meinen mit einer Nummer gekennzeichneten Platz gefunden, wird es hell auf der Bühne und meine Mutter, ebenfalls in einem schwarzen Kleid gewandet, betritt den Platz. Sie lächelt, strahlt eine solche Ruhe und Zuversicht aus, dass mir warm ums Herz wird.

„Guten Tag, werte Damen und Herren. Liebe Mitbürger!“, beginnt sie, „Wie ihr wisst haben Unstimmigkeiten zwischen den Generationen zu einem Konflikt geführt, der nicht länger durch reden beseitigt werden kann. Handeln, das ist unsere Aufgabe!“
„Was reden sie da? Wir müssen die schlechten Ären bei den Wurzeln packen und vernichten!“, ruft jemand aus der Menge.
Meine Mutter wird deutlich blasser und versucht gegen die aufkeimende Unruhe anzukämpfen. In dem Moment kann ich nicht mehr an mich halten, all die Wut, die Frustration der letzten Jahre strömt aus mir heraus. Ich springe von meinem Platz herunter, schubse die lautstark diskutierenden Politiker zur Seite und erklimme den Rand der Bühne. Ein Absatz bleibt in den makellosen Holzddielen hängen und ich stolpere. Dennoch erreiche ich das Mikrofon, reiße es meiner Mutter aus der Hand und drehe mich direkt in die Kameras, die nun allesamt auf mich gerichtet sind. Die Reden verstummen und alle Gesichter, egal ob jung oder alt, wenden sich mir zu.
„Äh, Hallo. Ich bin Janna. Tochter von… Johanna.“, stotternd dringen die ersten Worte über meine Lippen. Gelächter ertönt. Meine Anspannung ist greifbar, trotzdem rede ich weiter. „Was meine Mutter eigentlich sagen wollte ist folgendes: Wir können nicht länger aneinander vorbeireden. Mir ist bewusst, wie schwer es für die älteren Generationen sein muss, mich und meine Freunde zu verstehen. Partys, schicke Klamotten, das alles hat sich in den vergangenen Jahren sehr geändert. Radikales Umweltbewusstsein prägt meine Generation, dass ihr das nicht immer nachvollziehen könnt, ist selbstverständlich. Aber genauso müsst ihr uns sehen! Wir denken, handeln, fühlen wie ihr! Wir verstehen euch ebenso wenig wie ihr uns. Wir wissen nicht, weshalb ihr uns nicht erlaubt, uns auf Eisenbahnscheinen fest zu ketten. Warum wir keine kurzen Kleider tragen dürfen, denn für uns ist das alles normal! Ihr könnt Verständnis nicht als selbstverständlich hinnehmen, dürft nicht die Hoffnung verlieren! Denn Mensch sein bedeutet Fehler zu machen! Mensch sein bedeutet, gemeinsames Handeln! Zusammenhalt! Zuversicht und den Glauben an den anderen! Wir können gemeinsam diesen Konflikt beseitigen! Wir müssen nicht erst einen Krieg anfangen, der die ganze Welt ergreifen und ins Chaos stürzen wird.
Stellen Sie sich vor, sie wären der letzte Mensch auf der Erde. Die ganze Welt wurde zerbombt wegen einem Streit, der hier an dieser Stelle beseitigt werden könnte! Stellen Sie sich vor, ein Leben in Einsamkeit zu führen, verlassen von ihrer Familien ihren Freunden, verdammt mit ihren eigenen Selbstzweifeln zu leben, ihre Taten immer und überall sehen zu müssen! Und stellen Sie sich vor sie könnten in der Zeit zurückreisen und ihre Taten ändern, würden sie es tun?“

Wellen der Zustimmung toben über den Platz. Erleichterung steht mir ins Gesicht geschrieben. „Ich bitte sie hier nur um wenige Gefallen. Müssen wir unsere Kinder umbringen und uns mit ihrem Blut beflecken? Müssen wir unsere Fehler mit Ansichten Anderer rechtfertigen? NEIN! Denn wir sind Menschen, unabhängig von Anderen! Wir dürfen glauben und denken was wir wollen! Und wir verdienen RESPEKT für unser Handeln! JEDER von uns tut auf seine Weise das richtige und das sollte JEDEM von uns bewusst sein! Wir müssen etwas ändern, wenn wir überleben wollen!“

Ich verstumme, alle Energie fällt von mir ab. Zum ersten Mal seit zehn Jahren freue ich mich auf den nächsten Tag. Ich falle meiner Mutter in die Arme. Hoffnung strömt durch das gesamte. Jetzt frage ich mich, weshalb ich nicht bereits früher so gehandelt habe, aber wenn ich jetzt zurückblicke, waren die zehn Jahre ebenso ein Teil meines Lebens wie dieser Augenblick. Ein Teil, den ich nicht rückgängig machen wollen würde. Plötzlich weiß ich, was noch fehlt. Etwas muss noch getan werden, um das Ende ein für alle Mal zu verhindern. Eine tiefe Trauer erfasst mich und ich sehe die Lösung auf einmal klar vor meinen Augen. Langsam ziehe ich einem der Soldaten eine Pistole aus dem Gürtel. Niemand bemerkt, wie ich mich zu den vordersten Rängen der Loge durchkämpfe. Ich sehe meinen Vater lächelnd auf seinem Stuhl sitzen. Sein grauer Anzug hat denselben Ton wie seine Haare. Ich müsste eigentlich etwas fühlen, aber alles in mir ist leer. Enttäuscht. „Papa?“ Meine Stimme klingt fest, anders als ich erwartet hätte. Er lächelt mich an, dieses Lächeln verzerrt sich jedoch zu einer entsetzten Grimasse als er meinen Blick bemerkt.

„Papa, du wirst schuld sein am nächsten Weltkrieg und an dem Tod Milliarden von Menschen. Das Urteil lautet…“ Tränen laufen in meine Augen, vernebeln mir das Blickfeld. Der Kloß in meinem Hals ist wieder da. Ich ziehe die Waffe aus meiner Lederjacke und richte sie auf seinen Kopf. Eine Kamera schwenkt auf mich zu und projiziert mein Bild in die ganze Welt. Ich bemerke, wie mich schwarz gekleidete Männer umstellen, ihre Waffen auf mich richten. Ich blicke ein letztes Mal nach oben. Der Schrei meiner Mutter dringt an mein Ohr, als meine Finger den Abzug betätigen. Die Kugel fährt zischend aus dem Lauf und bohrt sich in die Brust meines ungläubig guckenden Vaters. Im selben Augenblick trifft mich ein Kugelregen. Ich ziehe die goldene Uhr aus meiner Tasche und breche mit dem Metall zwischen den Fingern auf der Erde zusammen. Das letzte was ich sehe, bevor die Dunkelheit mich verschluckt, ist, wie die Datumsanzeige der Taschenuhr klickend auf den 16.06.2160 springt.

Zehn Jahre nach meinem Tod, zehn Jahre nachdem ich den vierten Weltkrieg verhindert habe.
Stell dir vor, du bist die Heldin, die das Ende der Welt verhindert hat. Alle lieben dich, alle sind stolz auf dich.
Stell dir vor, du bist bei deinen Taten gestorben, doch du lebst in den Herzen der Menschen weiter.
Stell dir vor, du wachst jetzt auf und alles war nur ein Traum.
Stell dir vor, du wachst auf und bist wieder alleine. Der letzte Mensch auf der Erde, Figur in einem perfiden Spiel der Zeit. Stell dir vor, du bist nicht die Heldin aus deinen Träumen, sondern einfach nur du. Ganz alleine auf der Welt, für immer.
Aber du kannst es dir nicht vorstellen, denn du wachst nicht mehr auf. Nie wieder.
Ende

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

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Die Jury

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Worum geht es im "Wissenschaftsjahr 2013 - Die demografische Chance"?

Die Siegerehrung zum Wettbewerb "U20-Ü60"

Es war schwer, aber die Jury hat entschieden...