Liebe Franziska

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

Liebe Franziska,

in Deinem Brief fragst du mich, ob ich den Umzug ins Mehrgenerationenwohnhaus immer noch nicht bereut habe. Diese Frage ist mir in den vergangenen zwei Jahren häufig gestellt worden. Dir, meiner besten Freundin, will ich sie ausführlich beantworten: Nein, ich habe diesen für meine inzwischen fünfundachtzig Lebensjahre kühnen Schritt bis jetzt keine Minute bereut!
Vom Tag des Einzugs an waren und sind meine Nachbarinnen und Nachbarn spürbar bestrebt, „den nachbarschaftlichen Gedanken durch gegenseitige Hilfen und regelmäßige Begegnungen zu verwirklichen“, wie es die Präambel zu unserer Vereinssatzung vorschreibt. Mir tut so viel Wohlwollen richtig gut.
Hier ein paar Beispiele: Ich hatte mir gleich zu Beginn eine Kontaktallergie eingefangen, die fürchterlich juckte. Mein Rücken musste morgens und abends „gesalbt“ werden. Ohne Zögern fanden sich zwei Nachbarinnen, die diesen Samariterdienst übernahmen. Dass es dabei gelegentlich zu ausführlichen Schwätzchen kam, tat allen Beteiligten gut. Schon im ersten Jahr fanden sich Mitspielerinnen zur regelmäßigen Kartenrunde zusammen, die heute noch besteht. Du weißt ja, wie gerne ich spiele. Jeden Samstag stellt mir mein Nachbar Brötchen vor die Tür, hin und wieder kochen und essen wir gemeinsam. Die Liste ließe sich mühelos weiterführen.
Du wirst verstehen, dass ich mich in dieser Umgebung geborgen fühle. Sicher kannst du dir auch vorstellen, dass ich mich bemühe, mit meinen bescheidenen Kräften zum Gemeinwohl beizutragen. Da kommt schon mal meine Nähmaschine, der Backofen und gelegentlich auch die Gitarre zum Einsatz. Bei jedem Anlass zum Feiern laufen wir zur Höchstform auf. Unsere nach Maß angefertigten Geburtstagsständchen sind literarische und musikalische „Spitzenleistungen“. Unsere jüngsten Mitbewohner (neun Monate, vier Jahre und fünf Jahre alt) gehören immer dazu und sind vertraut mit all den Tanten, Omas und Onkels aus dem Haus. Für mich ist der Umgang mit den Kleinen, vor allem mit dem Baby, eine wahre Freude.

Du fragst bei so viel Enthusiasmus sicher, wo denn das sprichwörtliche Haar in der Suppe schwimmt. Ich will es dir verraten: Es sind unsere alle drei Wochen stattfindenden Vereinssitzungen. Da ging es vor allem im ersten Jahr um wichtige Entscheidungen, und es kam hin und wieder zu hitzigen Debatten, die in persönlichen Streit ausarteten. Auch jetzt gibt es bei schwierigen Themen hin und wieder Meinungsverschiedenheiten, die nicht immer sachlich ausgetragen werden. Bis heute konnten die Wogen noch immer in relativ kurzer Zeit geglättet werden. Trotzdem: Mir machen solche Konflikte jedes Mal das Herz schwer. In einer Konzeptskizze aus der Zeit vor der Vereinsgründung heißt es:„Unser Zusammenleben kann nur gelingen, wenn wir alle offen, freundlich, ehrlich, respektvoll und fair miteinander umgehen. Keiner darf beschämt, bloßgestellt oder beleidigt werden. .....“ In der Planungs-phase glaubten wir allen Ernstes, dass diese Vorsätze ohne weiteres umzusetzen seien. Wir haben nicht bedacht, dass es Menschen mit ihren Eigenheiten und Schwächen sind, die in einer solchen Gemeinschaft relativ eng zusammenleben. Das haben wir inzwischen begriffen, und wir arbeiten daran, unsere Streitkultur zu verbessern und einander ausnahmslos mit Wertschätzung zu begegnen. Ich glaube zuversichtlich, dass wir auf einem guten Weg sind. Es gibt also keinen triftigen Grund, den Umzug zu bereuen. Das sehen alle Nachbarn übrigens auch so.
Liebe Franziska, was hältst Du davon, mich bald mal wieder zu besuchen? Du könntest in unserem Gästezimmer wohnen, könntest Dir selbst einen Eindruck von meinem Umfeld machen, und wir würden eine gute Zeit im schönen Hattingen miteinander verbringen. Ich würde mich freuen!

Gesundheit, frohen Mut und einen strahlend-bunten Herbst
wünscht dir mit lieben Grüßen von der Ruhr zum Neckar
Deine Ella

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

*Einsendeschluss!* Nun werden die Texte gezählt, gesichtet, sortiert, gestapelt und veröffentlicht. Und während die Jury liest, könnt ihr den Publikumspreis per Voting ermitteln!

*Bitte lesen!!!*: Teilnahmebedingungen

Die Jury

Schöne Preise für die schönsten Einsendungen

Worum geht es im "Wissenschaftsjahr 2013 - Die demografische Chance"?

Die Siegerehrung zum Wettbewerb "U20-Ü60"

Es war schwer, aber die Jury hat entschieden...

Autorin / Autor: Ella Spychalski, 85 Jahre