Sein Herbstblatt

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

„Was denkst du?“
„Dass ich rennen muss… Dass ich sie einholen muss, meine Zeit.“
Seine Stimme klingt rau, er merkt, er wird alt. Alle bleiben sie jung, nur er, er nicht. Er schafft es nicht mehr. Die Zeit rennt ihm davon. Noch eben war er gerannt, hinter seinem Vater her, schon im nächsten Moment wird er gejagt von seinem eigenen Sohn. Sein eigener Sohn. Wie hieß er noch gleich? Kurz musste er in seinen Gedanken kramen, unendlich langsam, wie ihm schien. Viel zu langsam.
Louis, fiel es ihm wieder ein. Louis hatte er geheißen. Hatte, jetzt nicht mehr, denn schon lange hatte der Sohn seinen Namen verloren. Er hatte ihn verloren, als er gerannt war und verfolgt wurde. Nicht von seinem Sohn oder seiner Tochter, auch nicht von ihm. Was ihn verfolgt hatte, war schneller gewesen, hatte ihn eingeholt und mit sich genommen.
Wenn er jetzt daran zurückdenkt, werden seine Gedanken klarer, doch sein Gang geht schleppend schwer. Es war der Tod gewesen, der diese Hetzjagd gespielt hatte, er hatte es genau beobachten können.

Alles hatte mit kleinen Uneinigkeiten begonnen. Er wusste nicht mehr, wie es dazu gekommen war, wahrscheinlich eine der üblichen Auseinandersetzungen hatte genügt, jedenfalls war einem von ihnen der Geduldsfaden gerissen. Er war explodiert und alle Wut war in die Luft gejagt worden.
Mit einem tiefen Seufzer bleibt er kurz stehen und blickt sich um. Wenn er in den Himmel schaut, versperren einige Zweige der Ahornbäume, die den Weg säumen, seine freie Sicht. Er bemerkt, dass die Blätter sich schon verfärbt haben in die Herbsttöne, die Louis so sehr geliebt hatte. Louis.
Sein Junge war ein Mensch der Gegensätze gewesen, Farben und Musik hatte er geliebt, ebenso wie Idylle und Einsamkeit. Alle Zimmer im Haus waren gepunktet und gestreift oder kariert gewesen, in den schillerndsten Farben. Er hatte das Leben niemals eingefangen, er hatte es beschützen wollen, indem er es zeigte. Mit seinen Ideen und Schnitzereien hatte er sie alle fasziniert. In fast jedem Raum hatte ein Instrument gestanden. Louis hatte sie alle beherrscht. Er war Meister seiner Werke und Herr seiner Taten gewesen. Nie hatte er die Ruhe und Geduld verloren, die ihn so besonders machten, bis auf jenes eine Mal, als er vor Hass auf seinen Vater seinen Namen getötet hatte. In den Raum mit schwarzen Wänden hatte er kein Instrument gestellt. Er hatte drei Tage und drei Nächte dort verbracht ohne alles. Ohne Pinsel und Farben, ohne CD oder Instrument, ohne sein Schnitzwerkzeug, ohne sich selbst und seine Gefühle. Als er in der Nacht des dritten Tages das Zimmer verließ, war er ein Anderer, als der, der es betreten hatte.
Aus Hass und aus Wut und vermutlich auch um zu beweisen, dass er es auch ohne seinen Vater schaffte, hatte er seinen Namen abgegeben und einen neuen angenommen.
Nach der Nacht des vierten Tages war der neue Emil verschwunden, nur an den weißen Buchstaben auf der schwarzen Wand hatte er ein letztes Mal gelebt. E M I L, wie ein Beweis, ein Hinweis darauf, dass Louis jetzt tot war.
Und dann war er gerannt, fort von dem Leben und hindurch zwischen all den Eichen und Birken und Fichten, die er früher in den schönsten Farben gemalt hatte und die ihm nun seltsam grau erschienen. Er war für immer verschwunden geblieben.

Jetzt rannte er selbst, wie Louis es damals getan hatte. Noch war da ein Vorsprung, das Ende noch nicht in Sicht. Noch gab es Hoffnung. Hoffnung auf Leben. Leben ohne Louis, das wird ihm in genau dem Augenblick bewusst, als er anhält, um zu verschnaufen. Er durfte nicht zu lange warten, er konnte es sich nicht erlauben, seine müden Beine waren nicht mehr flink wie früher, als es leichter gewesen war. Das Leben mit Louis - 
Falsch, nicht mit Louis, mit Emil, fiel ihm ein. Emil hieß sein Junge jetzt. Er war nicht mehr der berühmte Kämpfer, wie sein Name von damals. Heute war er Emil, der Eifrige.
Welch ein Unsinn, denkt er bei sich, als er vom Bäcker den Weg in Richtung Park einschlägt. Was bringt es einem, eifrig zu sein, wenn man schon lange überholt ist? Er verstand den Sinn dahinter nicht und läuft schweigend weiter. Man muss kämpfen im Leben, und etwas aus sich machen, sonst wird das nichts mehr mit der Zeit. Sonst läuft sie ab, wie Wasser aus der Badewanne, wenn man den Stöpsel zieht.

Er muss laufen mein Junge, denkt er, und setzt sich erschöpft auf eine Parkbank. Laufen, nicht pausieren wie er. Aber was war er schon. Ein alter Mann in einer jungen Welt, das ging niemals gut. Noch hat er Kraft, noch ist er jung und kann laufen und ihm mit all seinen Fragen davonrennen. Noch, denn auch seine Zeit wird einmal kommen.
Beeil dich, denkt er im Stillen. Beeil dich, mein Junge!

Ängstlich schreckt er hoch, als er seinen Namen hört. Richtig, auch er trug einen Namen. Vincent, der Sieger. Eine schöne Bedeutung für seinen Namen, wenn man weiß, was man besiegt hat. Er lächelt in dem Gedanken, dass er sich selbst besiegt haben könnte. Das wäre immerhin etwas, an dem man festhalten kann, nicht etwas, das vorbeigeht. Ein Sieg besteht nicht immer, nur das Kämpfen nimmt kein Ende.
Wie ertappt zuckt er zusammen, als er eine Bewegung in den Augenwinkeln wahrnimmt. Jemand hatte sich neben ihn gesetzt, auf die Parkbank. Noch jemand, der eine Verschnaufpause braucht, denkt er und lächelt weise.
Er hört, wie der Wind durch die Blätter in den Baumwipfeln über ihm streicht und fragt sich mehr als einmal, was der Sinn dahinter war. Ob auch in diesem Jahr die Blätter von den Bäumen fallen würden und ob sie auch in diesem Jahr in seinem Schoß liegenbleiben würden.

Sein Nachbar ruft ihn erneut, leise und zaghaft, als könne der Wind zerbrechen, wenn er lauter sprach. Erneut schreckt er hoch, doch diesmal ohne Angst. Langsam hebt er seinen Kopf und blickt seinem Gegenüber ins Gesicht. Es schien, als würde er durch ihn hindurchsehen, doch schließlich fixiert sich sein Blick. Diese Augen kannte er. Er kannte sie besser, als jeder andere. „Louis“, flüstert er und streckt die Hand nach ihm aus. „Louis, mein Junge.“ Der Sohn lächelt ihm wissend zu und verschwimmt vor seinen Augen. „Louis.“ Es war kaum mehr als ein Krächzen, das aus seiner Kehle drang. „Louis.“
Leise löst sich ein erstes Blatt aus den Kronen über ihm und noch bevor es in seinem Schoß landen kann, nimmt der Sohn die Hand des Vaters in die Seine. Lautlos segelt das Blatt durch die Luft, fliegt ein paar Wendungen und fällt still auf ihre Hände.


Kleine Verständnishinweise:
Louis hat die Namensbedeutung „berühmter Kämpfer“.
Emil hat die Namensbedeutung „der Eifrige“.
Vincent hat die Namensbedeutung „der Sieger“.

Eine Eiche ist sehr langlebig (hat viel Lebenszeit),
eine Birke sehr kurzlebig (hat wenig Lebenszeit).
Die Fichte ist ein edles (wertvolles) Holz.

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Autorin / Autor: von Annika, 14 Jahre