In Unstimmigkeit vereint

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

Wir sind zusammen gefangen. Gefangen im gleichen Körper. Gefangen im gleichen Geist. Wir können nur das Gleiche sagen, denn wir haben nur einen Mund. Dabei streiten sich in uns Überstürzt- und Bedachtheit, Sorge und Zuversicht, Mut und Vernunft. Wenn es eines gibt, in dem wir uns einig sind, dann nur in dem, dass wir es nicht sind. Nur eine Stimme haben wir, obwohl in unserem Kopf zwei Gedankenstimmen unablässig und unabhängig voneinander schreien. Gedankenstimmen, die sich nicht selbst aussprechen können, da sie sich zu sehr widersprechen- zu verschieden sind, um über die gleichen Lippen zu kommen.
Wir, das sind zwei Teile von uns. Ein Teil ruft: ‚Renn los!’. Während der andere nur zügelnd einlenkt: ‚Halt ein, bleib stehen!’. Und so laufen wir im gemäßigten Tempo. Laufen, ohne den Wunsch einer unserer Gedankentriebe vollständig zu erfüllen. Wenn der eine streng ermahnt: ‚Denk nach bevor du den Mund aufmachst“, schreit der andere nur widerspenstig: ‚Denken kannst du später’. Und wir tun nichts von beidem, sondern halten kurz inne und handeln dann. Ohne wirklich zu überlegen, aber ohne unüberlegt zu handeln. Ein Teil von uns will springen, immer höher und höher, während der andere den Boden nicht um einen Zentimeter verlassen will. Also hüpfen wir stattdessen. Gefallen tut es uns beiden nicht im Übermaße.


Ich las sie. Die Worte. Und sie brannten wie Feuer. Es war unser letzter Brief gewesen. In einer Zeit, in der das ‚Ich’ noch ein ‚Wir’ war: In der ein Teil von mir existierte, der nicht meiner war. Dennoch war er wertvoll. Wertvoller als alles andere.
Ich habe ihn in Verzweiflung davon gestoßen. Aus Angst vor mir selbst. Aus Angst vor diesem anderen Gedankenstrom, der nicht wegzudenken war aus meinem Kopf.
Dabei hatte mich das Schicksal zu Beginn meines Seins in seine beschützende Obhut genommen. Mir graust bei dem Gedanken, es so hintergangen zu haben.
Denn heute weiß ich, dass es ein Wunder war. Und immer noch ein Wunder ist, dass es wirklich passiert ist.
Denn war es nicht ein Wunder, dass wir überhaupt handelten?
War es nicht ein Wunder, dass wir es schafften verständlich zu sprechen?
War es nicht ein Wunder, dass wir es immer schafften uns zu einigen?
Wir wollten nicht das, was der andere wollte und doch haben wir am Ende nie etwas getan, das wir nicht auch unterstützten. Zumindest gedanklich.
Heute weiß ich, dass ich ohne diesen Teil von mir nicht auskommen kann. Er fehlt mir. Seine Abwesenheit hat eine gähnende Leere in mir zurückgelassen. Etwas gewaltsam aus mir herausgerissen, das nicht ersetzt werden kann, denn wir waren Eins, auch wenn wir nicht zu vereinen waren.
Die Vorteile des Kompromisses, der goldenen Mitte, habe ich achtlos zur Seite gestoßen.
Gesehen habe ich nur die Einschränkung meiner Freiheit, die Einschränkung meiner Meinung. Ich konnte nicht tun, was ich wollte. Musste mich einigen. Kompromisse eingehen. Verbesserungsvorschläge anhören. Belehrungen über mich ergehen lassen.
Heute weiß ich, dass ich ohne meinen zweiten Gedankenstrom niemals so weise handeln kann, wie damals. Weisheit hat dabei nichts mit Überlegung zu tun, denn überlegen kann ich alleine am Besten. Doch Weisheit war die Verbindung zweier Eigenschaften, die sich ausgeschlossen haben; aber es hat funktioniert. Immer funktioniert, ohne, dass wir je ein lobendes Wort darüber verloren hätten.
Seit ich denken kann war da diese Stimme in meinem Kopf. Ein Gedankentrieb, der mich auf den Füßen hielt. Doch ich sah ihn nur als etwas, dass in meinen Körper eingedrungen war. Unsere von Grund auf verschiedenen Gedanken waren damit in meinem Geist vereint, der damit zu gleichen Teilen uns gehörte: Nicht ausschließlich mir.
Es ist genau ein Jahr her, dass wir diese brennenden Worte gemeinsam und im Einverständnis miteinander verfasst haben. Es war ein Hilferuf aus einer vom Glück durchtränkten Lebenssituation- ein Hilferuf, der beantwortet wurde. Beantwortet von jemand, der das Glück nicht sah oder nicht sehen wollte und uns dabei half von ihm verlassen zu werden:

„Ich habe von so einem Fall noch nie gehört  und kann Ihnen (Oder sollte ich lieber sagen, Euch?) versichern, dass ich mehr als nur erstaunt und schockiert zugleich bin. Natürlich werde ich in der Lage sein Euch zu helfen. Ihr verdient Hilfe. Warum habt ihr Euch nicht bereits früher gemeldet? Ich habe noch nie davon gehört, dass die Seele eines alten Menschen sich in dem Körper und Geist eines Neugeborenen einnisten kann. Ihr seid also eine Einheit? Ihr scheint beide eingesehen zu haben, dass das nicht möglich ist. Auf so ‚engem Raum’ können zwei so unterschiedlich Lebensphilosophien nicht tagtäglich aufeinander prallen. Nicht, dass irgendwann eine daran zerbricht. Ich entnehme aus Eurem Schreiben, dass ihr beide mit der Trennung einverstanden seid? Nun, das müsst ihr wohl sein, sonst hättet ihr das nicht gemeinsam schreiben können. Ich werde Euch trennen- keine Sorge.“

Doch das war der Moment, an dem alle meine Sorgen begannen. Ich frage mich oft, wo sich mein zweiter Teil nun befindet: Die Seele des alten Menschen, wie es im Briefe steht. So habe ich davor noch nie darüber nachgedacht. Wenn ich ehrlich bin, dann hatte ich immer gedacht, dass dieser andere Teil, der zu dem ‚Wir’ gehörte, eigentlich der Jüngere war.
Denn ich war es doch der vorsichtig, bedacht, vernünftig und langsam ist- sogar zu vorsichtig, zu bedacht, zu vernünftig und zu langsam. Zu verunsichert. Zu verschreckt.
Mir fehlt mein ausgleichender Teil. Und ich weiß, dass auch ich dem anderen Teil genauso fehle, denn ich glaube, dass dieser nun zu übermütig, zu unbedacht, zu unvernünftig und zu schnell ist.
Wir brauchen einander und haben einander verloren.
Es war unsere Entscheidung, aber das macht ihre Akzeptanz umso schwerer.

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

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Die Jury

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Worum geht es im "Wissenschaftsjahr 2013 - Die demografische Chance"?

Die Siegerehrung zum Wettbewerb "U20-Ü60"

Es war schwer, aber die Jury hat entschieden...

Autorin / Autor: von Lara, 17 Jahre