Zimmer drei

Einsendung zum Schreibwettbewerb U 20 - Ü 60

Erfahrungsbericht über sechs Monate sozialen Dienst im Altenheim Frohengeist von Charis Köhler

*01.03.2020*
Mir wurde verordnet, Tagebuch über meine Zeit als unfreiwillige Praktikantin in diesem Heim zu führen, also tu ich das jetzt – auf meine Weise. Ob die Behörden damit später etwas anfangen können, ist mir herzlich egal.
Nennenswerte Eigenschaften besitze ich keine, dafür sitzt in mir eine Menge Frust. Weil ich diesen rausgelassen habe, wurde ich bestraft. 
Jawohl, ich habe geklaut. Ein Smartphone übrigens. Sollte eine Mutprobe sein. Dummerweise hat man mich erwischt.
Um meine „kriminelle Ader“ abzuwürgen, werde ich mich nun ein halbes Jahr lang um alte Leute kümmern, denn ich gehöre zu den „Sozialfällen“, die lernen sollen, anständig zu leben.
So ein Quatsch. Wenn es schon wenig sozial engagierte Jugendliche gibt, warum schreckt man sie von vornherein ab, im Pflegewesen arbeiten zu wollen? Mit Strafen tut man niemandem einen Gefallen.
Der Richter sah das natürlich anders und meinte nur: Charis – na mal sehen, ob dieser Name gerechtfertigt ist!
Muss man das verstehen?

*03.03.2020*
Für den Anfang, sagen die Pfleger alias Folterknechte im Altenheim („Frohengeist“ heißt es ausgerechnet), kümmerst Du Dich um Flur sechs.
Flur sechs, das heißt: zehn Zimmer mit je drei alten Damen. Der pure Horror! Ich hetze den ganzen Tag von einem Raum in den nächsten, bereite gebissgerechte Mahlzeiten zu, richte die Kunstblumensträuße her, sodass die Alten sich daran erfreuen, und rede beruhigend auf sie ein, wenn sie sich aufregen. Einige von ihnen sind dement und zählen mich in umnachteten Momenten zu ihrem Verwandtenkreis. Die Pfleger meinen, dass ich das ignorieren soll...Ich habe keine Lust mehr, und heute ist erst mein zweiter Tag.

*14.03.2020*
Eine Frau hat mich Karies genannt.
Ganz ehrlich, ich kann bald nicht mehr. Zwei Wochen sind um, mittlerweile kenne ich „meine“ Heimbewohner ganz gut und kann sie einschätzen.
Da ist zum Beispiel Wanda. Einst eine ziemlich erfolgreiche Geschäftsfrau, machte irgendwann ihr Körper den andauernden Stress nicht mehr mit - Schlaganfall. Weil ihr Sohn mit ihr nichts anfangen konnte, schob er sie ins Frohengeist ab. Darüber spricht Wanda fast nie.
Maria kommt wie meine Familie aus Griechenland. Meistens sitzt sie in einem Schaukelstuhl am Fenster und erzählt mit unglaublicher Ausdauer von ihrer Heimat, der Sonne und dem guten Essen.
Und Dagmar. Sie hat aus irgendeinem Grund einen Narren an mir gefressen, und zu meinem Erstaunen geht mir das weniger auf die Nerven als erwartet.
Es gibt noch viel mehr Bewohner und Geschichten – zu viele für das überforderte Personal. Jeder Heimbewohner ist einzigartig, doch behandelt werden sie alle gleich. Besuch bekommen die meisten selten. Manchmal tun mir die Alten leid.
Hoffentlich gibt es später jemanden, der sich um mich kümmert, wenn ich es nicht mehr kann!

*20.04.2020*
Maria spricht mit mir über Griechenland. Sie hat an meinem Namen erkannt, dass meine Mutter aus Hellas kommt. So komisch es klingen mag: Wir beide haben viel gemeinsam. 
Eigentlich gibt es für Praktikanten pro Bewohner feste Zeiten, doch gestern setzte ich mich darüber hinweg und blieb länger in Zimmer drei. Bei Dagmar gibt es einen Verdacht auf Arthritis, sie war niedergeschlagen und ich wollte sie aufmuntern.
Die drei erzählten von sich und stellten mir Fragen zu meinem Leben, zu dem es nicht viel zu erzählen gibt. Keine gute Antwort.
Doch ich bekam es nicht einmal hin, zu sagen, was mir wichtig ist. Da gibt es einfach...wenig. Also schauten wir Fernsehen. Wanda meckerte. Maria und Dagmar machten sich über sie lustig und schauten dabei zu mir herüber. Es war klar, dass nun ich an der Reihe war, aufgemuntert zu werden. Irgendwie sind die drei ja ganz süß.

*13.06.2020*
Zweieinhalb Monate sind um. Maria wollte heute wissen, was ich für meine Zukunft plane, weil ich ja schließlich genug Zeit gehabt habe, mir etwas Vernünftiges zu überlegen.
Keine Ahnung, habe ich geantwortet. Das Übliche halt: Arbeit, Ehe, Kinder?
Und dann sagte Maria etwas Weises und schwupp, ich war beeindruckt. Seltsam, wie ein Bild kippen kann.
Ihre Worte waren: Wonach soll man am Ende trachten? Die Welt zu kennen und sie nicht zu verachten.
Und: Nicht von mir, sondern von Lichtenberg.
Vielleicht liegt es daran, dass der Stress mich allmählich verrückt macht, aber ich denke seitdem ununterbrochen an dieses Zitat. Mein üblicher Blick auf die Dinge ist ein verachtender.
Wenn ich ehrlich bin, macht mir das schon lange keinen Spaß mehr.
Nachtrag: Maria mag Zitate, deswegen habe ich ihr eine Karte gekauft und darauf geschrieben: Das Leben wär’ nur halb so nett, wenn keiner einen Vogel hätt’.
Kam gut an! :-)

*07.07.2020*
Wanda, Maria und Dagmar haben irgendwo ein Buch mit Ausbildungsberufen aufgetrieben. In meinen Pausen überlegen wir gemeinsam, was zu mir passen könnte. Ich fühle mich seltsamerweise geborgen.

*29.07.2020*
Liebes Tagebuch,
Maria ist gestorben. Warum hat sie nicht noch einen Monat warten können?
Eine missglückte OP. Bei allem medizinischen Fortschritt konnte nicht verhindert werden, dass Bakterien ihren altersschwachen Körper langsam von innen zerstören. Himmel, das ist kein schöner Tod.
Haben ihre Worte denn nun noch einen Sinn? Kann ich an mich glauben, wenn es am Ende nichts nützt?
Die fünf Monate haben mich verändert. Wer bin ich jetzt?

Nachtrag: Wanda und Dagmar haben wohl gemerkt, dass ich ziemlich neben der Spur bin. Sie sagen, es gäbe ein Geschenk für mich, ein Buch mit Aphorismen von Lichtenberg. Ein schwacher Trost, ich vermisse Maria.
Ich bin keine Welt, die um sich selbst kreist. Ich mag es, nein, benötige das Gefühl, gebraucht zu werden.
Immerhin das weiß ich jetzt.

Nachtrag II: Ich habe das Buch von Lichtenberg gelesen. Ganz hinten stand etwas Handgeschriebenes:
Man sagt oft, dass alte und junge Menschen einander nicht kennen und sich folglich nicht verstehen.
Wir glauben das nicht! Alt und Jung ergänzen sich ganz wunderbar, wenn Toleranz, Neugier und Lernwilligkeit auf beiden Seiten gleich stark vorhanden sind.
Und wenn man dann wie Du, Charis, „die Güte“ im Namen trägt, kann eigentlich nichts schief gehen...
In Liebe,
Zimmer drei

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Es war schwer, aber die Jury hat entschieden...

Autorin / Autor: von Christina, 20 Jahre