Sein und Schein - Teil 2

Virtuelle Sportskanonen

Die meisten Gründe, sich hinter einem erfundenen Nickname zu verstecken sind natürlich völlig legitim: erst mal anonym bleiben und den wahren Namen nicht in alle Welt verstreuen. Gut so! Man weiß ja nicht, mit wem man es alles so zu tun bekommt. Oder man möchte mal eine andere Rollen ausprobieren: Da werden braunhaarige blond, aus Bewegungsmuffeln werden virtuelle Sportskanonen, Dicke werden dünn, Schüchterne sind plötzlich megacool und die sonst kaum den Mund aufkriegen haben plötzlich eine gaaaaanz große Klappe. Warum auch nicht, anonymes Chatten und Surfen ist eben wie Maskenball und Karneval zusammen. Einmal darf man ganz anders sein, in eine andere Haut schlüpfen und gucken, wie es sich anfühlt, ein Junge, ein Star, ein sexygirl, eine Märchenprinzessin oder was auch immer zu sein. "Role Switching" nennt man im Psychologen-Fachchinesisch diesen Rollen- und Identitätswechsel.

Virtuelle Identität - realer Frust

Manchmal schlüpft man dabei nicht in eine ganz fremde Rolle, sondern erlaubt nur einem bestimmten Teil der eigenen Persönlichkeit, mal in den Vordergrund zu treten, der sonst nicht so zu Wort kommt. Vielleicht will man einmal richtig frech sein, Sachen sagen und fragen, die einem sonst nicht über die Lippen kommen oder mal Leuten so richtig die Meinung geigen. Das Verstecken hinter einer Rolle, hinter einem Nick, der eine falsche Vorstellung hervorruft – z.B. dass man ein Mädchen ist, obwohl man ein Junge ist - kann allerdings ganz reale Probleme hervorrufen. Was ist z.B., wenn man sich plötzlich mit jemanden richtig gut versteht und ihm oder ihr plötzlich stecken muss, dass man jemand ganz anderes ist, als man behauptet hat. Oder wenn man vorgibt, ein schreckliches Problem zu haben und dann jede Menge supernette und aufrichtig besorgte Hilfsangebote bekommt? Ganz schön peinlich... Das ist dann oft der Moment, wo die Lust an der erschwindelten Identität verfliegt und man sich wünscht, so etwas nie erfunden zu haben. Der Weg zurück ist dann oft schwierig, weil die Leute, die man getäuscht hat, nicht nur virtuell, sondern ganz real enttäuscht sind und einem auch nicht mehr vertrauen können und wollen.

Das Äußere spielt keine Rolle

Bei aller Maskerade muss also klar sein, dass hinter den Masken Menschen mit ganz realen Gefühlen stecken. Und dass Rollenspielchen, die nur von einer Seite aus gespielt werden, in dem Moment einen hohen Preis kosten können, wo sich richtige Freundschaften entwickeln. Und wenn man auf der Suche nach Freundinnen ist, tut man besser daran, nicht zu unehrlich zu sein. Natürlich muss man nicht allen stecken, dass man unter blühender Akne leidet, cholerisch und unausstehlich ist oder von anderen als toootal uncool angesehen wird. Warum auch? Es ist der große Vorteil der Anonymität im Netz, dass Menschen sich völlig unvoreingenommen begegnen können, die sich sonst mit dem A**** nicht angucken würden.
Kleidung, Mode, Alter, Aussehen oder die Zugehörigkeit zu einer Clique spielen hier keine Rolle. Ganz egal, wie "beliebt" oder "unbeliebt" du im real life bist, wie toll du aussiehst oder was deine Klamotten gekostet haben. Egal, ob du zu leise sprichst, lispelst, stotterst, piepst oder quäkst. Keiner kann sehen, ob du rot wirst oder hören, dass du anfängst zu stammeln, weil dir was peinlich ist. Mimik und Gestik fehlen, auch durch Emoticons :-) können sie nicht vollständig ersetzt werden, zumal diese ja auch bewusst falsch eingesetzt werden können. Man kann also ein *grins* einsetzen, obwohl einem so gar nicht nach grinsen zumute ist, sich das aber nicht anmerken lassen will. Im realen Leben ist es viel schwieriger Gefühle zu verstecken. Auch rutscht einem nicht so leicht etwas raus, das man später bereut, da man beim Schreiben in der Regel mehr Zeit zum Denken hat als beim Sprechen.

Sprache ist gefragt!

Allerdings kommt hier die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken zum Tragen. Rechtschreibung mag hier keine allzu große Rolle spielen, auch muss man weder ein Sprachgenie noch eine Schriftstellerin sein. Da aber dennoch alles geschrieben werden muss, haben es die, die der jeweiligen Sprache nicht so mächtig sind oder sich allgemein nicht so gut ausdrücken können, in Chats und Foren manchmal schwerer. Stellt euch vor, ihr müsstet auf französisch chatten! Es ist auch so schon nicht immer einfach, Nuancen in die Zeilen zu bringen. Geschriebenes, schwarz auf weiß, ist trotz eines ;-) oft knallhart. Auch in den LizzyForen findet man daher immer wieder Missverständnisse und Entschuldigungen wie: "das habe ich nicht so gemeint", "das sollte nicht zickig klingen" usw. Der richtige und "gute Ton" ist also gerade im Internet besonders wichtig!

Autorin / Autor: ~sabine~ - Stand: 28. November 2002