Kapitel 5

Dragosia - Die Macht der Elemente
Ein Fortsetzungroman von Rita Solis


Enya nahm einen Schluck aus ihrer Flasche. „Ich hoffe, wir kommen bald an!“
„Es dauert nicht mehr lange. Wir müssten in absehbarer Zeit da sein“, äußerte sich Plum.
Sie waren bereits eine halbe Stunde im Wald umhergelaufen.
„Und wir haben uns wirklich nicht verlaufen?“
„Nein! Ich weiß doch wohl meinen Nachhauseweg auswendig, Enya. Ich wohne schließlich gleich neben Dragos Höhle“, antwortete der Fellball barsch.
Sie liefen schweigend weiter. Wir werden ja sehen, dachte Enya amüsiert.
Nach kurzer Zeit kamen sie auf einer Lichtung zum Stehen. Tageslicht fiel auf den Boden und beleuchtete eine steinige
Höhle, die tief in die Erde führte.
„Wir sind da“, ließ sich Plum vernehmen.
„Und da müssen wir rein?“
„Ja. Aber erst einmal zeige ich dir mein Wohngemach. Falls du mich irgendwann brauchst, klopfst du einfach an die Tür.“
Er führte Enya zu einem gewaltigen Pilz, der in etwa ihre Größe besaß. Der breite Stiel war weiß, während die Kappe rot und mit weißen Flecken besprenkelt war. Es war ein außergewöhnlich riesiger Fliegenpilz.
„Warum ist er so groß?“, wollte Enya wissen.
„Drago hat ihn mir etwas… vergrößert.“
„Aha.“ Sie ging in die Hocke und klopfte an den giftigen Pilz. Es hallte nach. „Er ist hohl!“
Plum nickte bedächtig. „Jawohl, das ist er. Wenn du die Tür an der hinteren Seite öffnest, siehst du es auch. Und du würdest auch sehen, dass es darunter wie bei Drago eine Höhle in der Erde gibt. Der Pilz hat den Vorteil, dass es nicht hineinregnet.“
Enya umrundete den Pilz, drückte die goldene Klinke der im Fruchtfleisch eingelassenen Tür herunter und betrachtete erstaunt, was ihr Plum zuvor erzählt hatte.
„Oha!“ Enya schnalzte anerkennend mit der Zunge.
Die Fellkugel legte den Kopf schief und meinte leichthin: „Warum sich die Menschen solche grotesken Laute ausdenken, werde ich wohl nie verstehen.“ Dann sagte er drängend: „Wir müssen jetzt aber wirklich zu Drago.“
Kommentarlos und ohne sich weiter zu verständigen, betraten sie das Dunkel der Höhle.
Enya hörte, wie harte Schuppen aneinander rieben, und vernahm einen gleichmäßigen, lauten Atem.
Und dann sah sie ihn. Sie sah den Drachen aus ihrer Zeichnung.
Kräftige, harte Muskeln spielten unter den glänzenden Schuppen, die das in der Finsternis spärliche Licht reflektierten. Die Flügel erschienen so zart wie Butterbrotpapier.
Die platingrauen Augen, so groß wie ihre Hände, blickten sie unentwegt an und beobachteten jede ihrer Bewegungen.
Dann durchbrach seine tiefe, dunkle Stimme die Stille und hinterließ unzählige Echos: „Enya. Willkommen in Dragosia.“
Und an Plum gewandt schmeichelte er: „Gut gemacht. Du bist für heute entlassen.“
Doch dieser wirkte mit einem Mal unsicher. „Kann ich nicht bleiben, Euer Hoheit? Ich habe doch sonst nichts zu tun.“
„Nein! Geh, Plum! Sofort!“, erwiderte Drago drohend. Seine Flügel spannten sich auf und er ließ blitzende Krallen und Zähne zeigen.
Enya und ihr kleiner Begleiter zuckten zusammen und wichen einige Schritte zurück. Mit schnellen Schritten war die Fellkugel verschwunden.
Enya wandte sich dem gewaltigen Ungetüm genauer zu und merkte, wie sich kurz Furcht in ihre Glieder schlich. Das Entsetzen musste sich auch in ihrem Blick widergespiegelt haben, denn Drago schien zu merken, dass sie ihn mit Argwohn betrachtete. Für einen kurzen Moment meinte sich Enya einzubilden, Ärger in den riesigen Augen aufblitzen zu sehen. Höre auf, dir voreilige Vorurteile zu bilden. Gerade du weißt ganz genau, dass das falsch ist, tadelte sich Enyas Gewissen. Sie zog schuldbewusst die Schultern ein und senkte den Blick, doch Drago begann zu sprechen. „Verzeihung. Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber man muss ihn erziehen wie einen Hund, sonst stellt er nur Unfug an“, erklärte der Drache beschwichtigend.
Ach ja? Dem anfänglichen Unbehagen wich urplötzlich Wut. Enyas Augen sprühten Funken, als sie dem mächtigen Wesen an den Kopf warf: „Was sollte das vorhin mit ‚Willkommen, Enya‘? Ich soll verhindern, dass meine Welt zerstört wird, weil du uns Menschen nicht leiden kannst. Warum soll ich dann von dir freudig empfangen werden, wenn ich einer von ihnen bin?“
Sie hatte eine weitaus andere Reaktion erwartet.
Er duckte sich, fuhr ein weiteres Mal seine Krallen aus und knurrte: „Unterstehe dich! Erst einmal spricht man mich mit ‚Euer Majestät‘, ‚Euer Hoheit‘ oder ‚Euer Gnaden‘ an, ist das klar? Und außerdem habe ich alles Recht der Welt, die Menschheit zu hassen wie die Pest. Hör zu…“
„Plum hat mir bereits alles erzählt, Euer Majestät.“
„Er hat was getan?“
„Er hat mir alles erzählt. Vom Ende der Drachen bis hin zum aktuellen Auftrag“, erläuterte Enya.
Der Drache seufzte: „Was soll man sich aufregen. Um darauf zurückzukommen: Du wirst sehen, warum ich die Menschheit verachte, sobald du deine Ausbildung bei mir beginnst und die Verwandlung in einen Drachen beherrschst. Ich werde dir zeigen, warum ich die Menschen verachte.“
Enya traute ihren Ohren nicht und sah ihn ungläubig an. „Wie bitte? Ich soll mich in einen Drachen verwandeln? Bestimmt habt Ihr mich mit jemandem verwechselt, Majestät!“
„Nein. So absurd es sich auch anhört. Erst muss ich dir aber dein Element anvertrauen. Dazu muss ich wissen: Willst du deine Aufgabe annehmen?“
Enya musste ironischerweise lächeln. „Was bleibt mir anderes übrig?“
„Aber… du kannst auch wieder nach Hause, Enya! Du kannst das alles einfach wieder vergessen, ein normales Leben führen-“
„Ich dachte, Ihr wolltet mich unbedingt für diesen Auftrag. Warum versucht Ihr es mir wieder auszureden?“, unterbrach sie ihn stirnrunzelnd.
Der Drache senkte verlegen den Kopf.
„Warum?“, wiederholte sie.
„Es… es gab vor langer Zeit eine…“ Er verstummte und schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Ich darf es dir nicht sagen. Es tut mir leid.“
„Das ist nicht fair!“
Dragos Mund verzog sich zu einem traurigen Grinsen und sein Blick schweifte ab. „Das ist es nie, Enya.“
„Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass ich Euch schon einmal gesehen habe?“
Die riesigen Augen des mächtigen Wesens richteten sich auf sie. Das schmerzliche Lächeln hielt an, während eine Antwort ausblieb.
Dann sagte er: „Ich glaube, das reicht für heute. Du kannst dich nach Hause begeben. Nächsten Samstag wirst du wieder hier erscheinen. So früh wie möglich. Und… es ist besser, wenn du deinen heutigen Aufenthalt in Dragosia niemandem verrätst.“
„Okay.“
Sie war fast am Ausgang, da rief er ihr hinterher: „Du wirst herausfinden, woher du mich kennst. So lange es auch dauern mag!“

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