kaltherz - Teil 1

von Moira Frank

Das Wasser stand an dem Tag, da Jelen Stejzci ihre Waffe zum ersten Mal seit Wochen wieder entsicherte, fast knöchelhoch auf den Straßen. Es regnete in dünnen, eisigen, grauen Fäden.
Jelen Stejzci war schlechter Laune. Ihr Magen schmerzte wie immer bei solchen Einsätzen. Ihre Dienstjacke hatte keine Kapuze. Kaum, dass sie aus dem Wagen war, klebte ihr das Haar bereits in nassen Strähnen im Gesicht.
Nein, das Wetter war scheußlich, aber Jelen Stejzci hatte trotzdem allen Grund, einigermaßen gut gelaunt zu sein. Es war zugegeben nicht das erste Mal, dass ein Hinweis sie zu "Dred" führte, wie ihre Einheit ihn getauft hatte. Aber diesmal hatten sie eine Spezialeinheit von einem Dutzend schwer bewaffneter Männer zugeteilt bekommen. Egal wie geschickt dieser gottverdammte Killer sich bislang auf seiner Flucht angestellt hatte, heute saß er in der Falle.
Die hoch aufragenden Gebäude, die die Straße in eine düstere Sackgasse verwandelten, trugen graue Schleier aus Dreck. Berge aus Schlamm und Schutt waren dort, wo auf der anderen Straßenseite ein halber Häuserblock hätte sein müssen, abgerissene Gebäude, längst überwuchert von Unkraut und nachlässig von irgendeiner Baufirma umzäunt. Es war eine trostlose Gegend, nicht nur im Regen.
Außer ihr waren bei dem Wetter nur zwei Kollegen ausgestiegen. Sie sah Fox, der per Funk Kontakt hielt. Seine Miene war angespannt. Er sprach mit einem Kollegen. Beide blickten hinauf zu dem im Dunkeln liegenden Gebäude.
Die Spezialeinheit hatte die zwei anliegenden Dächer in Beschlag genommen. Jelen sah die Schatten von Gestalten mit Waffen im Anschlag. „Arme Schweine“, dachte sie. Regen prasselte auf die Wagendächer. Jelen schob sich zwischen den Autos hindurch, um einen besseren Blick auf die Straße zu haben. Elf Uhr zwanzig. Seit sechs Minuten passierte gar nichts. Ihr Funkgerät knackte. Sie löste es von ihrem Gürtel.
„Was? Schön, dass ihr mich auf dem Laufenden haltet! Was ist mit dem Kerl?“, sie hielt inne und fluchte: „Ja, verdammt, ich bin hier draußen. Alles in Ordnung.“
„Jelen?“, fragte eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um. Laure trug ein Sweatshirt unter ihrer Jacke und hatte sich die Kapuze ins Gesicht gezogen. Sie sah besorgt aus.
„Laure, Sie sollten im Wagen bleiben“, knurrte Jelen ungehalten, während die Polizeipsychologin zu ihr hinüber kam. „Fox bringt mich um. Seien Sie froh, dass er gerade zu tun hat. Sie haben kein Funkgerät, Laure. Sie wissen, dass das gefährlich ist, also gehen Sie bitte zurück.“
„Was ist da oben los?“, die junge Psychologin klang besorgt. „Es dauert lang heute.“
„Sieht aus, als hätten sie niemanden vorgefunden, aber das ist noch lange keine Entwarnung … einen Moment.“ Jemand funkte. Das Rauschen des Regens machte es fast unmöglich etwas zu verstehen. Um ein Haar wäre Jelen das nasse Gerät aus den Fingern geglitten. „Was? Ja. Ja. Natürlich.“ Sie ging rückwärts, Laure mit sich ziehend, den Blick auf das regenverschleierte Gebäude gerichtet. „Gehen Sie in den Wagen! Schnell!“
„Was ist los?“
„Laure!“, fuhr Jelen sie an. „Gehen Sie!“

Stejzci zerrte sie ein Stück weit hinter die Wagen. Sie sah, wie die Schützen auf den Dächern in Bewegung kamen und hörte Wagentüren schlagen. Die ersten Schüsse fielen. Jelen rief etwas in ihr Funkgerät, zog ihre Waffe und verschwand im Regen außer Sichtweite.
Nun war Laure allein. Ihr Pulsschlag raste. Studien waren etwas anderes als die Realität. Sie biss die Zähne zusammen und richtete sich gerade so weit auf, dass sie den Eingang des Gebäudes im Blick hatte. Die Schüsse hatten aufgehört, sie hörte Stimmen, Brüllen, stampfende Schritte. Sie tastete nach der Wagentür links von ihr. Verschlossen!
Laure richtete sich auf und begann die Straße hinab zu laufen. Jelens Auto stand ganz am Ende. Ein unauffälliges Auto, abgesehen vom Blaulicht auf dem Dach. Ein schwarzes Zivilauto, wie Jelen es halb verächtlich, halb zärtlich nannte. Laure warf einen Blick zurück. Jelen war nicht zu sehen. Als sie den Wagen erreichte, war die Angst noch immer da. Laure kletterte auf den Beifahrersitz und rang nach Luft.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Außer einem sperrangelweit offenstehenden, aber ansonsten vollkommen dunklen Fenster in einem Gebäude, ließ sich jedoch nichts erkennen. Plötzlich sah sie den Mann. Er stand an die Hauswand gepresst auf dem schmalen, steinernen Sims zwischen zwei Fenstern im ersten Stock. Der Regen und der peitschende Wind schienen ihn nicht zu kümmern.
Sie erblickte Jelens Gestalt zwischen den Wagen.
Laure stockte der Atem. Der Mann sprang. Er fiel nicht, er sprang, bestimmt fünf Meter in die Tiefe. Mit voller Wucht prallte er auf ein schmales, schlammiges Rasenstück, überschlug sich mehrmals und kam dann mit der Leichtigkeit einer Katze auf die Beine...

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Autorin / Autor: Moira Franck - Stand: 24. Juni 2010