Der Schein trügt - Teil 7

von Ann-Katrin Kinzl

„Entschuldigen Sie, Sir. Die beiden Herren von Scotland Yard sind gerade eingetroffen. Soll ich sie hereinbitten oder Ihren Termin auf später verschieben? Sie sehen wirklich erschöpft aus. Sie sollten sich wirklich hinlegen. Sie wissen doch, was der Arzt gesagt hat: Sie haben nur eine Chance auf Heilung, wenn Sie sich nicht aufregen und sich schonen.“
Lucy Carter, Pauls Hausmädchen, schaute besorgt auf ihren Arbeitgeber hinab.
„Nein, nein Lucy. Alles in Ordnung. Wenn Sie aber bitte so freundlich wären uns einen heißen Tee zu bringen und bitte eine Decke. Es ist schon wieder so furchtbar kalt hier.“ Fröstelnd lächelte er gequält und gab sich Mühe Lucy zu beruhigen. Sie war wirklich ein nettes, junges Mädchen.
Niemand durfte wissen, wie schlimm es genau um ihn stand. Nicht Evan, nicht Lucy und vor allem nicht diese Polizisten, die sich in alles einmischten und den armen Evan verdächtigten, etwas mit Janes Mord zu tun zu haben.

„Mr. Fenley, wenn ich nicht irre?“ Ein rothaariger, älterer Mann stand im Türrahmen.
„Sie irren sich keineswegs. Sie sprechen mit dem großen Paul Fenley.“ Sarkastisch lächelnd winkte er MacPhee heran und bot ihm an sich zu setzen. Als er eine zusammengekauerte Gestalt unsicher im Flur herumstehen sah, rief Paul auch Davis herein und bot beiden Polizisten einen Brandy an. Mit hochgezogener Augenbraue nahm er von Davis hellrosa Hauspantoffeln Notiz.
„Guter Jahrgang. Von 1905 schätze ich?“ Genießerisch hob MacPhee seinen Schnäuzer an und schloss für eine Sekunde die Augen.
„Ah, ich sehe wir haben einen Kenner unter uns. Leider habe ich nicht die geringste Ahnung. Der Brandy war ein Geschenk zu meinem erfolgreichen Studienabschluss in Princeton. Seitdem war ich immer auf der Suche nach einem Vorkoster. Ich selber mag leider keinen Brandy. Aber er soll sehr gut sein. Selbst nach so vielen Jahren. Ich hoffe jedoch sehr, dass sie trotzdem keine Magenbeschwerden bekommen.“
„Ja ähm…wie auch immer…um auf den Grund unseres Besuches zu kommen…wir wollen…“
„…Wissen ob ich irgendetwas über den Mordfall Hemmingway weiß?“, ergänzte Paul.
„Nun, zunächst einmal wollten wir von Ihnen wissen, warum Sie Evan Gardiner diesen Brief geschickt haben. Warum soll nach all den Jahren die Wahrheit ans Tageslicht? Warum ausgerechnet jetzt?“
„Sie klingen genauso verständnislos wie Jane. Es war letztendlich meine Pflicht, Evan die Wahrheit zu erzählen.
Wenn es nach Jane gegangen wäre, hätten wir die Wahrheit vor 20 Jahren zusammen mit Jules begraben. Nie hätte sie zu dem gestanden, was sie angestellt hat. Diese Einstellung hatte sie von ihrem Vater, General Funderstow. Er war noch einer der alten Liga. Ein Aristokrat, durch und durch korrekt, wenn es um die eigenen Vorteile ging. Sie haben wohl schon von ihm gehört, nehme ich an? Er war rund um London sehr bekannt. Nicht zuletzt wegen seines ausschweifenden Lebenswandels, wenn Sie beide verstehen, was ich damit meine. Janes Mutter Louise war eine Cousine der Königin und man wollte für sie die bestmöglichste Partie. Reich – ja, das war sie, aber keinesfalls gutaussehend genug, um den alten Funderstow zu reizen. Unzählige Affären hatte der alte Gauner. Besonders auf die junge, hübsche Verwalterstochter hatte er es abgesehen. Seltsam, auch sie war eines Tages spurlos verschwunden. Würde mich nicht verwundern, wenn Louise ihre Finger im Spiel gehabt hätte, wie Jane Jahre später an Jules Tod.“

MacPhee runzelte die Stirn und nippte gedankenverloren an seinem Brandy. Ihm geisterten im Moment viele Gedanken gleichzeitig im Kopf herum.
„Mr. Fenley, verzeihen Sie mir bitte, wenn ich Sie beleidige, indem ich Sie frage, ob Sie in irgendeiner Weise an Jane Hemmingways Tod beteiligt sind“, wagte Davis sich vor.
„Leider muss ich gestehen, dass ich wohl Grund genug gehabt hätte, Jane zu töten. Sie hat mich, seit wir Kinder waren, ausgenutzt und für ihre Zwecke eingespannt. Vorgegaukelt hat sie mir, dass sie mich lieben würde, mich aber – aus Respekt gegenüber George – nicht heiraten könne. In Wirklichkeit hatte sie jedoch lediglich Angst, dass ich verraten könnte, was sie mit Jules angestellt hat. Aber um auf ihre Frage zurückzukommen: Nein, ich bin nicht an Janes Tod beteiligt. Ich war zur Tatzeit im Bridgeclub. Fragen Sie die anderen Clubmitglieder.“
Davis war ratlos. Schließlich hatten MacPhee und er doch so sehr auf Fenleys Unterstützung gebaut.
„Mr. Fenley, glauben Sie, dass Evan Gardiner schuldig des Mordes an Mrs. Hemmingway ist? Schließlich hätte er ja dank ihres Briefes Grund genug dafür gehabt.“
„Mr. Davis, ich warne Sie, gehen Sie nicht zu weit in ihren Untersuchungen. Evan Gardiner ist ein grundanständiger, junger Kerl. Sanftmütig, ein Träumer, kein Mörder. Lassen Sie Janes Mord auf sich beruhen und verbauen Sie beide nicht Evans Zukunft.“
Paul hatte sich während seines kurzen Plädoyers aufgerichtet und mit weiten Armbewegungen wild gestikuliert. Obwohl er kurz davor gewesen war, den Polizisten mehr zu erzählen als sie wissen sollten, beherrschte er sich.
Nun spürte er, wie sein Herzschlag raste und das Blut in seinem Gesicht pochte. Auf einmal drehte sich alles und er musste sich setzen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Sofort eilten MacPhee und Davis ihm zu Hilfe, doch eine andere Person war schneller. Lucy hatte bereits einige Zeit an der Tür gestanden und geradezu auf einen Vorfall wie diesen gewartet.
Frostig musterte sie die beiden Polizisten und gab Paul ein Wasserglas, zusammen mit zwei Tabletten. Dankend lächelte er Lucy an, die jedoch im Moment zu abgelenkt war, um sich um Paul zu kümmern.
„Ich möchte Sie jetzt freundlichst auffordern zu gehen! Sie sehen doch, dass es Mr. Fenley nicht besonders gut geht. Es wäre ein Zeichen des Anstands und des Respekts, wenn Sie auf der Stelle das Haus verließen“, sprach Lucy mit nahezu eisiger Stimme.
In diesem Moment kam sie MacPhee wie eine Tigermutter vor, die sich schützend vor ihr Junges wirft. Er musterte die junge Frau, während diese sich besorgt über Paul Fenley beugte und eingehend auf ihn einredete. Ihre dunkelbraunen Locken schimmerten in der Sonne und ihre grünen Augen blitzten immer wieder ärgerlich zu MacPhee.
„Mr. Fenley, ich denke, es wäre wirklich besser, Sie würden sich an die Anweisung des Arztes halten.“ Umsichtig drapierte sie die Mohairdecke auf Pauls Schoß und fühlte die Temperatur seiner Stirn.
„Nein, nein Lucy ich fühle mich nur etwas erschöpft!“
Missmutig schüttelte Lucy ihren Kopf und wandte sich schließlich an die beiden Polizisten: „Meine Herren, ich bitte Sie jetzt freundlichst zu gehen. Sie können gern Ihre Adresse und Telefonnummer hinterlassen. Sobald es Mr. Fenley besser gehen sollte, wird er sich bei Ihnen melden.“
„Miss Carter, ich verstehe ihre Aufregung, aber es ist wirklich wichtig für unseren Fall, dass wir Licht ins Dunkel …“
„Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Ich möchte, dass Sie jetzt gehen. So viel Aufregung… wegen einer Frau wie dieser…“, abrupt brach sie mit einem entschuldigenden Lächeln ab. „Entschuldigen Sie, Sir. Ich weiß man soll nicht schlecht über Tote reden…“
„Sie hielten wohl nicht viel von der Verstorbenen?“
Mit einem Blick über die Schulter zu Paul, winkte Lucy die beiden Herren von Scottland Yard in den angrenzenden Wintergarten, jedoch nicht, ohne vorher die Tür sorgsam hinter sich zu schließen und sich vorher noch genau zu vergewissern, dass Paul noch bei Bewusstsein war.
„Sehen Sie“, begann Lucy. „Mrs. Hemmingway hat Mr. Fenley ausgenutzt und es war ihr egal, dass er tiefe und aufrichtige Gefühle für sie hatte, solange er nur keine Ansprüche stellte und den stillschweigenden Helfer und sorgsamen Freund mimte.“
„Sie waren ihr gegenüber also durchaus ablehnend eingestellt?“
„Nun ich gebe zu, obwohl es für Sie beide vermutlich anmaßend klingt und meiner Stellung nicht standesgemäß ist, dass ich solche Frauen, wie Mrs. Hemmingway, oder ihre ach so vornehmen Freunde wie Mrs. Hemworth oder das Ehepaar Ravenclaw, um nur einige Namen zu nennen, zutiefst verabscheue. Jane Hemmingway war eine durch und durch schlechte Person. Als Mr. Fenley nach seiner Geschäftsreise schwer erkrankte, hat sie ihn nicht ein einziges Mal besucht, nicht einmal einen Brief hat sie geschickt. Stattdessen war sie auf dieser Party von General Brightman mit ihrem Gigolo, diesem Knight. Ohne jegliches Schamgefühl hat sie wild mit ihm geflirtet, sich sogar von ihm begrapschen lassen und zudem eine Flasche Champagner nach der anderen getrunken. Tja, und als Knight schließlich genug von ihr hatte und stattdessen in hohem Maße von der Tochter des Generals angetan war, fing sie vor allen Gästen einen Zank an und hat dem armen Mädchen sogar den Champagner ins Gesicht gegossen.“
„Was halten Sie persönlich von diesem Knight? Was wissen Sie über ihn?“
„Aubrey Knight ist ein gewöhnlicher Gärtner. Weder besonders reich noch faszinierend.“
„Und wie wurde er Gast auf dieser Party?“
„Nun ja, wie bereits gesagt, Jane hatte ihre Angel nach ihm ausgeworfen, wenn Sie verstehen, was ich meine… Knight ist vermutlich für jede Frau eine Gefahr. Ich meine, er sieht erstaunlich gut aus, ist gebildet und kann in aufsehenerregender Weise mit seinem Charme spielen.“
„Aber?“
„Er ist gefährlich. Ein Frauenheld, der sogar über Leichen gehen würde, um seinen Zielen näher zu kommen – dem sozialen Aufstieg und Geld. Jane reichte ihm ihre Hand dabei, doch war das vermutlich ein Fehler. Es hieß, Jane sei rasend gewesen, als er Luisa, eines der Dorfmädchen, schwängerte und sie habe ihm gedroht. Louisa hatte daraufhin leider einen, nun wie soll ich es ausdrücken, bedauerlichen Unfall. Sie stand auf einer Leiter im Garten ihrer Eltern, um Äpfel zu pflücken. Angeblich verlor sie das Gleichgewicht. Sie schlug mit dem Körper auf einen ziemlich harten Stein und ist seitdem querschnittsgelähmt. Ihr ungeborenes Kind hatte keine Chance. Seitdem halten sich im Dorf hartnäckig Gerüchte, Jane habe aus lauter Eifersucht rot gesehen und wollte sich Louisas entledigen. So wenig ich von Knight aber auch halten mag, so muss ich aber auch bemerken, dass er sehr geschockt von Louisas Unfall war und sich kurz darauf mit ihr verlobt hat. Meiner Meinung nach leidet er sehr unter der Situation und hat starke Schuldgefühle.“
„Und diese Louisa? Erinnert sie sich an nichts? Hegte sie nicht einen starken Groll gegen Mrs. Hemmingway?“, fragte MacPhee vorsichtig.
„Ach, Louisa doch nicht! Natürlich war sie entsetzt und geschockt, aber sie und Aubrey verbindet etwas, dass Jane nicht zu zerstören vermochte. Ich denke, ein normaler Mensch würde es fast als Liebe bezeichnen, obwohl ich glaube, dass Aubrey nicht der Richtige für Louisa ist. Er würde sich bei der Wahl zwischen Liebe und Geld immer für das Geld entscheiden!“
Obwohl MacPhee und Davis noch gerne Zeit bei der impulsiven Lucy verbracht hätten, sahen sie doch, dass diese sich wieder völlig hingebungsvoll um  Paul kümmern wollte.
Kaum hatte Lucy die Tür hinter Davis und MacPhee geschlossen, machte sich Ratlosigkeit zwischen den beiden Ermittlern breit.
„Davis, ich weiß nicht wie Sie das sehen, aber dieser Fall wird immer absurder und komplizierter! Ich meine, was haben wir: Evan Brendt alias Gardiner, den melancholischen Träumer. Mein Gefühl sagt mir, der Junge ist unschuldig. Dann haben wir Paul Fenley, den enttäuschten Verehrer. Todkrank und kaum in der Lage sich zwei Minuten gerade auf den Beinen zu halten. Er kann einfach nicht der Mörder sein. Dennoch weiß er mehr, als er uns sagen will! Lucy, das eifersüchtige und besorgte Dienstmädchen! Hat ohne Zweifel ein Motiv, war zur Tatzeit aber bei Fenley. Würde zudem Fenley nie allein lassen! Wer zum Himmel noch mal kommt sonst noch in Frage? Louisa, die verletzte Geliebte des Gärtners? Nein, Evan hat ausgesagt, die Person habe keinerlei Schwäche gezeigt! Aubrey Knight ist mein persönlicher Favorit. Hat Spielschulden und Geldsorgen. Hatte die Möglichkeit und das Motiv zu morden. Jane Hemmingway hatte sein Kind auf dem Gewissen und wollte ihn finanziell abschießen…oder gibt es noch eine weitere Person, die in Frage kommt?“
Davis saß gedankenverloren und mit träumerischem Blick auf einer Parkbank und lächelte vor sich hin. „Ein Traum von Frau…diese Augen…“
„Vergessen Sie’s Davis! Lucy Carter ist hoffnungslos in diesen Narr Fenley verschossen!“
Davis errötete bis unter die Haarwurzel, stand auf und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Der kläffende Mr. Watson rannte hechelnd mit einem Knochen im Maul hinter den beiden Detektiven her, die langsam ihren Weg in die Stadt aufnahmen.

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Autorin / Autor: Ann-Katrin Kinzl - Stand: 6. Juli 2010