Der Schein trügt - Teil 8

von Ann-Katrin Kinzl

7. Kapitel

Mortimer Funderstow war ein dunkelhaariger und verschlagen aussehender junger Mann. Er konnte kaum älter als Evan Brendt sein, doch strahlte er eine Arroganz und Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod seiner Tante aus, die einem Schauer über den Rücken laufen ließ. Beiden Detectives war klar, dass Mortimer mehr erfreut als betrübt auf den Tod seiner Tante reagierte. Er gab sich nicht einmal Mühe dies zu verbergen.
„Nun ja Inspector, der Tod meiner Tante ist natürlich ein herber Schicksalsschlag für uns alle. Die gute Seele. Ganz allein zu sterben, ohne Freunde und Familie. Sie müssen wissen, ich war ihr einziger noch lebender Verwandter… Ich war ihr Lieblingsneffe. Ich weiß noch, wie ich als Kind immer…“
„Mr. Funderstow, ich verstehe ihren tiefen Schmerz angesichts des Todes ihrer geliebten Tante. Was mir jedoch nicht ganz einleuchten will, ist die die Tatsache, dass ihre Tante es ablehnte, die ausbleibenden Spielschulden, die sie von ihrer Europareise mitbrachten, zu bezahlen. Und vor allem interessiert es mich, warum sie Ihnen noch nicht einmal half, als Sie von ihren Gläubigern massiv bedroht wurden? Sie müssen verzweifelt gewesen sein!“, entgegnete MacPhee scheinheilig.
„Natürlich war es ein Schock dass Jane…“
„Oh nein, Mr. Funderstow, Sie wissen genau dass es nicht nur ein Schock war. Sie waren wütend und verzweifelt, dass sie Ihnen das Geld nicht geben wollte. Sie waren fassungslos, hatten so auf ihre Unterstützung gebaut und was macht ihre einzige Tante: sie verweigert Ihnen die Hilfe! Verständlich, dass man da mal die Nerven verliert. Mich interessiert aber vielmehr, ob Sie auch zu einem Mord in der Lage gewesen wären!“
Mortimer wurde leichenblass. Seine mühsam vorbereitete Fassade des liebenden Neffen bröckelte.
„Also schön. Ja, ich war wütend. Sie war einfach total kalt. Diese Drohanrufe und -Briefe, all dies ließ sie kalt. Sie meinte nur, ich müsse lernen auf eigenen Beinen zu stehen. Sie könne und wolle mir nicht helfen. Aber als ich am Tag ihres Todes zu ihr wollte, um noch einmal mit ihr zu reden, da sah ich nur noch die Polizeiautos vor der Türe.“

„Was sagen Sie zu Funderstow, Davis?“, fragte MacPhee, nachdem sich die beiden Detectives auf den Weg nach Hause machten.
„Ich weiß nicht, Sir. Er ist zweifellos geldgierig und ein Mord wäre ihm durchaus zuzutrauen, aber er ist für mich nicht der Tatverdächtige mit dem größten Motiv. Ich tippe eher auf Knight, nachdem was ich alles über ihn gehört habe." „Nanana, Davis, lassen Sie sich nicht so vom Schein trügen. Noch haben wir nicht mit ihm gesprochen.“


8. Kapitel

„Es ist wirklich nett, dass Sie beide vorbeischauen. Ich hoffe es gibt Neuigkeiten?“
MacPhee wandte traurig den Blick vom Gesicht Rosalie Westhams.
„Bedauerlicherweise treten wir im Moment auf der Stelle mit unseren Ermittlungen. Es ist einfach so, dass die Beziehungsgeflechte in diesem Fall zu komplex sind, um sie uns zu erschließen. Sehen Sie, wir haben dieses Problem: …“ MacPhee nahm das Blatt und den Stift der vor ihm lag und begann zu schreiben.

„Nach bisherigem Stand der Ermittlungen, läuft alles darauf hinaus, dass eine unbekannte Person oder Ihr Mann der Täter ist. Ich weiß, es ist schwer für Sie im Moment, aber halten Sie durch, wir werden die Unschuld Ihres Mannes beweisen.“

Diese Polizisten überall. Überall tummelten sie sich. Die behandschuhte Hand glitt über das Ledersofa und über die Haare der jungen Frau, die gefesselt auf der Couch saß. Angstverzerrt weitete sie ihre großen braunen Augen und starrte entsetzt auf die vermummte Gestalt neben ihr. „Schon gut, Louisa, es wird dir nichts passieren. Du bist nur Mittel zum Zweck. Schreib Knight, er soll sich mit der Bezahlung beeilen. Jetzt wo die Alte tot ist und er Alleinerbe ist, dürfte das ja wohl kein Problem mehr sein. Wenn nicht, würde es mir sehr leid tun, seiner hübschen, kleinen Freundin wehtun zu müssen…“ Die Gestalt hielt Louisa ein Messer an die Kehle. „Ach ja, und ein Wort zur Polizei und ich werde böse, verstanden? Du willst doch nicht, dass ich böse werde? Gut, dann verstehen wir uns ja. Schreib genau das: Morgen um 12 Uhr nachts soll er das Geld vor der Parkbank in der Questroad abstellen. Er soll genau das tun, was ich ihm sage, sonst stirbst du.“ Louisa nahm zitternd den Block entgegen.


9. Kapitel

Ein lautes Rumpeln ließ beide Detectives kurze Zeit später aufschrecken. Ein junger, gutaussehender Mann stürmte ohne Anmeldung in ihr Büro und kramte schwer atmend einen Brief aus seiner Manteltasche. Ihm hinterher lief ein uniformierter Polizist. “Entschuldigen Sie, Detectives. Mr. Knight ist einfach an mir vorbei gerannt. Mr. Knight, Sie können hier nicht einfach in ein laufendes Verfahren hinein platzen! Sie müssen…“ „Ich muss überhaupt nichts. Ich weiß nur Eines. Meine Verlobte ist in der Gewalt eines skrupellosen Mörders, der auch Jane auf dem Gewissen hat und nicht zögern wird, auch Louisa zu töten, um an Janes Vermögen zu kommen. Sehen Sie hier“, mit diesen Worten reichte Aubrey den Brief an MacPhee. „Ich mache mir wirkliche Sorgen – wie Sie vielleicht wissen, hat Louisa erst vor einem halben Jahr unser Kind verloren. Außerdem ist sie querschnittsgelähmt, völlig hilflos ausgeliefert. Wir müssen sie finden. Ich bitte Sie, ich… Ich weiß nicht mehr was ich tun soll! Geld und Status waren mir immer so wichtig! Aber jetzt will ich nur noch Louisa. Sie müssen…“
„Mr. Knight“, begann McPhee. „Sie sind der Alleinerbe von Janes Vermögen, was aus ihrem Testament ergeht. Vor ihrem Tod wollte sie das ändern. Sie haben ein Motiv für die Tat und man hört wilde Geschichten über Sie! Frauenheld, Rumtreiber, geldgierig und skrupellos sind die mildesten Dinge, die über Sie gesagt werden.“
„Detective, ich… habe aus meinen Fehlern gelernt. Ich hatte vor, das Erbe abzulehnen und mit Louisa neu anzufangen, aber anscheinend holt uns die Vergangenheit immer wieder ein. Sie glauben nicht, wie sehr ich darunter leide, Schuld am Tod unseres Kindes und an Louisas… Nun ja, … Louisas Zustand zu haben. Ja, ich gebe zu, es war ein Fehler, Jane in mein Leben zu lassen. Aber verstehen Sie doch, ich brauchte das Geld. Ich hatte schon immer den Traum, eines Tages nicht mehr vor den Türen der High Society zu stehen, sondern zu der Upper Class dazu zu gehören. Ich dachte mir, was ist schon dabei, eine vermögende Frau wie Jane Hemmingway um etwas Geld zu erleichtern. Ach, wenn ich nur geahnt hätte, wozu sie fähig wäre. Louisa erinnert sich zwar an nichts, was an diesem verhängnisvollen Tag passiert ist, aber ich bin mir sicher, dass Jane hinter allem steckt. Sie war verrückt nach mir. Ständig hat sie mir nachspioniert oder mich mit ihrer Eifersucht in den Wahnsinn getrieben.“
„Mr. Knight, Sie müssen verstehen, dass wir Zweifel angesichts Ihrer wundersamen Verwandlung zum liebenden und pflegenden Verlobten haben. Sie sind nicht grundlos einer unserer Tatverdächtigen“, entgegnete MacPhee.
„Das verstehe ich, aber ich habe Janes Tod nicht zu verantworten. Ich war zur Tatzeit bei Miss Westwick. Ich sollte nach den Rosen schauen. Seltsamerweise konnte sie sich jedoch nicht erinnern, mich gerufen zu haben. Als erstes dachte ich, die alte Dame sei etwas verwirrt und könne sich nur nicht daran erinnern, Jane angerufen zu haben, um mich schicken zu lassen. Im Nachhinein bin ich mir jedoch sicher, dass Jane mich aus dem Haus haben wollte. Sie reagierte so seltsam. Zitterte am ganzen Leib und blickte ganz leer aus ihren kalten Augen. Ich glaube, sie wurde erpresst.“
„Wir werden Ihr Alibi selbstverständlich überprüfen. Was nun Ihre Verlobte angeht…“
„Detective…finden Sie Louisa. Sie ist so zart und schwach, sie kann doch nichts für meine Fehler. Ich werde jeden Betrag zahlen, um sie frei zu bekommen.“
„Ich denke, das wird nicht nötig sein“, MacPhee schnäuzte sich die Nase. „Egal, wer Ihre Verlobte gefangen hält, wir werden ihn fassen. Sagen Sie, was wissen Sie über Mrs. Hemmingways Freunde?“
„Nun, da gab es zum einen Paul Fenley. Er war ihr Verehrer, doch in den letzten paar Monaten hatten sie nur noch sporadisch Kontakt. Sie verband diese böse Geschichte.“ Mit diesen Worten deutete Aubrey auf die aufgeschlagene Klatschseite des London Express, der auf  Davis Schreibtisch lag. „Ich weiß nicht warum, aber ich mochte ihn. Im Grunde ist er eine ehrliche Haut. Des Weiteren hatte sie regen Kontakt mit Mary Higgins, der Dorfschneiderin. Sie und Jane kannten sich noch aus Kindertagen. Sie waren fast gleich alt. Mary war jedoch immer eifersüchtig auf Jane. Sie müssen wissen Marys Vater war verheiratet und erkannte seine Tochter nicht an. Er ließ ihrer Mutter jeden Monat einige hundert Pfund gutschreiben und kümmerte sich nicht weiter um sie. Es wurden die wildesten Gerüchte darüber gesponnen. Anscheinend gehörte Marys Vater zur oberen Gesellschaftsschicht. Ein ganz schöner Aufstand war das! Ansonsten hatte Jane keine Freunde. Oder zumindest keine, die sie nicht wegen ihres Geldes mochten.“ Aubrey lächelte mit einem verschämten Lächeln.
MacPhee achtete jedoch gar nicht mehr darauf. Davis rieb sich die Augen und fragte sich, was wohl in diesem Moment in den wohl genialsten Gehirnzellen Scotland Yards vorging.
Nachdem Aubrey die Tür hinter sich leise ins Schloss hatte fallen lassen, seufzte MacPhee. Mr. Watson knabberte inzwischen gierig an einem Hühnerknochen, den Davis ihm als Waffenstillstandsangebot mitgebracht hatte. Die Zeit eilte und das wusste MacPhee. Wenige Stunden konnten über Leben und Tod von Louisa Norris entscheiden. MacPhee war sich sicher, über den Mörder von Jane würden sie zu Louisa kommen.
Berge von Akten tummelten sich auf MacPhees Schreibtisch. Es waren Unterlagen aus Janes Büro. Seufzend arbeitete sich Davis durch verstaubte Haushaltsbücher und hunderte von Urkunden, Stammbäumen und Firmenunterlagen. „Ich glaube, wir finden hier nie etwas. All diese verstaubten Aktenordner… Wie sollen die uns im Fall voranbringen?“ „Davis, nun jammern Sie doch nicht wie ein altes Waschweib. Mein Gefühl sagt mir, dass wir gründlicher in den Fall einsteigen müssen, um uns der Lösung anzunähern. Hier zum Beispiel – sehen  Sie nur! Warum hat der alte Funderstow dieser Miss Higgins monatlich mehre 1000 Pfund gegeben? Mary Higgins, die die Leiche gefunden hat. Higgins, Higgins! Ich wusste, sie verbirgt etwas!“ „Ich verstehe immer noch nicht, was dies mit dem Fall zu tun haben soll, Inspector?!“ „Ich auch noch nicht Davis, ich auch noch nicht. Aber ich habe eine Vermutung! Die Wahrheit kommt immer ans Licht!“


10. Kapitel

Die Fliege hob sachte einen ihrer winzigen Flügel. Sie spreizte die Beine ab und setzte zum Flug an. Ein Knallen zog sich durch die Luft und die Fliege war tot. Das Blut klebte nun auf dem sauberen Marmortisch, aber Janes Mörder störte das nicht. Die kalten eisblauen Augen auf die Küchenuhr gerichtet, öffnete die Person ihren abgeschabten und heruntergekommenen Ledergeldbeutel und holte das vergilbte Schwarz-Weißfoto eines Mannes heraus. Ein hämisches Grinsen später war das Foto zerrissen und lag in Einzelteilen auf dem Linoleumboden. „Ich brauche dich nicht, Vater! Letztendlich habe ich es auch ohne dich geschafft!“ Einen letzten verächtlichen Blick auf die Überreste des Fotos werfend, ging der Mörder von Jane Hemmingway zu einer letzten Mission in London hinaus.

Autorin / Autor: Ann-Katrin Kinzl - Stand: 12. Juli 2010