Mädchensache - Teil 8

von Marianna Glanovitis

6. Hände hoch!

Blitzschnell erfasste Sabine die Situation. Thomas war dort draußen, er hatte kein Benzin mehr. Nun trieben Wind und Wellen ihn auf die Klippen zu.
Sie waren hier, konnten sich jederzeit auf das Surfbrett setzen und lospaddeln, um ihn als Dieb zu stellen.
„Los, wir müssen handeln!“, schrie sie. „Oder wollt ihr, dass er gegen die Felsen geschmettert wird?“
„Aber Lukas hat gesagt…“
„Hört zu, wollt ihr Thomas fangen oder nicht?“
„Aber…“
„Kein Aber!“, brüllte Sabine durch den Wind. „Wenn ihr zu feige seid, um mitzukommen… Na gut, das macht mir nichts aus. Dann stelle ich ihn eben alleine. Aber beschwert euch nachher nicht!“
In Wahrheit war sie nicht halb so überzeugt, wie sie es vorgab zu sein, doch es half.
„Na, gut… Wenn du willst…“, brummte Sara und Lea willigte nach heftigem Protest ein.
„Aber was sollen wir denn tun?“, rief Lea verzweifelt. „Er ist dort draußen und wir sind hier und kommen nicht mal zum Surfbrett!“ Doch Sabine war mutig und so kletterte sie über die Felsen zur Bucht einfach hinunter.
Lea blieb vor den Felsen stehen und sah ängstlich dort hinunter, wo ihre Schwester verschwunden war.
„Ich trau mich das nicht“, gab sie zu. „Was ist, wenn ich abstürze?“
„Du wirst nicht abstürzen“, redete ihr Sara gut zu.
„Was ist jetzt?“, rief Sabine von unten. „Kommt ihr oder kommt ihr nicht?“
„Lea traut sich nicht, die Felsen hinunterzuklettern!“, schrie Sara.
„Na, gut, dann bleibt sie eben alleine hier!“, rief Sabine.
Das saß. So schnell sie konnte, kletterte Lea die Felsen hinab.
„Na, also!“, sagte Sabine unten und klopfte ihrer Schwester auf die Schulter. „Geht doch, Schwesterherz!“
Flink und gewandt kletterte sie die Felsen hinunter und sprang den letzten halben Meter einfach herab.
Wie selbstverständlich zog sie das Surfbrett ins Wasser und übernahm die Paddel. Es war nicht einfach, bei diesem Wind zu paddeln.
Immer wieder riss eine Welle das Surfbrett näher an die Felsen.
Immer näher kam ihnen das Boot, auf dem Thomas zu fliehen versucht hatte.
Als das Boot nur noch ein paar Meter entfernt war, richtete Thomas sich plötzlich auf.
Mit der einen Hand versuchte er, das Gleichgewicht zu halten, in der anderen hielt er seine Pistole, die er zum großen Schreck der Mädchen auf sie richtete.
„Hände hoch“, sagte er mit rauer Stimme. „Überlasst mir sofort das Surfbrett, sonst sieht es schlecht für euch aus.“
„Du bist verrückt!“, schrie Sabine ihn an.
„So, bin ich das?“, Thomas’ Stimme war nicht mehr so warm wie früher. Sie klang kalt, beherrscht und zu allem bereit.
„Ich bin nicht verrückt!“, sagte er. „Das haben andere vor euch auch schon gedacht, aber ich habe sie alle ausgetrickst. Ich habe euch alle an der Nase herumgeführt. Ich bin schlauer als ihr.“
Unvermittelt schoss er eine Kugel ab. Sie pfiff knapp über die Köpfe der Mädchen hinweg.
„Du hast sie ja nicht mehr alle!“, brüllte Sabine Thomas an. „Du hättest uns treffen können!“
„Ich habe euch gewarnt!“, sagte Thomas. „Wenn ihr mir das Surfbrett nicht überlasst, schieße ich noch einmal!“
Plötzlich sah Lea einen dunklen Schatten, der um das Surfbrett herum glitt.
Und plötzlich hervor schoss.
Es war Springer. Lea lächelte… Der Delfin flog direkt auf Thomas zu und sprang über seinen Kopf hinweg.
„Was ist… Wie…“, stammelte dieser.
Fassungslosigkeit und Angst spiegelten sich auf Thomas’ Gesicht… Er verlor das Gleichgewicht… Die Pistole rutschte ihm aus der Hand und ins Wasser und versank augenblicklich… Er ruderte mit den Armen… Und stürzte mit dem Rucksack auf dem Rücken ins Wasser. Die Mädchen wollten ihn gerade festhalten, als ihn eine große Welle wegspülte.
Wie elektrisiert starrten die Mädchen auf die Stelle, an der Thomas gerade verschwunden war. Wie Blei verrannen die Sekunden. Plötzlich tastete sich eine Hand aus dem Wasser. Es war Thomas’ Hand. Er griff mit letzter Kraft nach dem Schlauchboot und versuchte, sich an der glatten Außenwand festzuhalten.
Doch vergebens, mit jeder Welle, die über ihn schwappte, zog ihn der Rucksack immer wieder zurück ins Wasser.
Eine hohe Welle riss ihn fast mit sich und als sie Sekunden später gegen die Felsen donnerte, sah Lea mit Schrecken, wie nah sie inzwischen an die spitzen Felsen herangetrieben worden waren.
Thomas tauchte wieder auf, direkt neben den Mädchen und versuchte erneut, sich am Schlauchboot festzuhalten.
Jetzt reagierte Sabine. Sie erwischte Thomas’ Kopf und hielt ihn über die Wasseroberfläche.
„Sara, hilf mir mal!“, schrie sie ihrer Freundin zu. Doch Sara hatte schon begriffen und war bereits zur Stelle, um Thomas, der panisch mit den Armen nach ihr griff, die Befestigungsleine des Bootes um die Handgelenke zu schlingen.
„Hört ihr das?“, rief Sabine. Sie hatte die Augen zusammengekniffen. Als Lea das Motorboot sah, das vor ihnen auftauchte, erschrak sie zuerst. Wer konnte das sein? War es etwa ein Komplize von Thomas, der die Beute und auch seinen Freund retten wollte? Aber ihre Sorgen waren unbegründet. Es war Lukas mit zwei Polizisten, die die Mädchen noch nie gesehen haben.
„Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt an Land bleiben?“, schimpfte Lukas, doch er zwinkerte ihnen zu.
Irgendwie schaffte es Lea, in das Polizeimotorboot zu klettern. Die Polizisten banden das Surfbrett und das Schlauchboot an ihr Boot und fuhren mit ihnen zurück zum Strand des Campingplatzes. Lukas kümmerte sich inzwischen um Thomas, den Mann, der sie die ganze Zeit zum Narren gehalten hatte.



Auf dem Campingplatz lief ihnen sofort Sabines und Leas Mutter entgegen. Sie war von den Polizisten über den Einsatz der Mädchen informiert worden.
Sara war zu ihrem Platz gegangen.
„Was habt ihr euch dabei gedacht?“, sagte Leas Mutter. Sie war blass um die Nase. „Ihr hättet dableiben sollen, das alles der Polizei überlassen… Wieso habt ihr mir nichts gesagt? Ich hätte das mit der Polizei regeln können…“
Sie umarmte beide herzhaft, dann sagte sie: „Na ja, aber ihr seid da. Das ist doch die Hauptsache, oder?“
„Schon gut, Mama!“, grinste Sabine. „Du brauchst uns nicht zu erwürgen! Uns ist ja nichts passiert …“ „Na, ich weiß ja nicht…“, murmelte ihre Mutter.
Nach einer Weile kam Sara dazu und sagte: „Macht euch auf etwas gefasst! Da sind ein paar Leute, die sich bei uns bedanken wollen!“
Gleich darauf wurden sie fast zerquetscht. Alle die, die Thomas bestohlen hatte, kamen zu ihnen, um sich zu bedanken. Sofort stürmte die Frau, der man ihr Armband gestohlen hatte, auf sie zu und bevor noch irgendjemand etwas sagen konnte, hatte sie jedem der Mädchen schon hundert Euro in die Hand gedrückt, als „kleines“ Dankeschön.
„Aber… Nein, das können wir nicht annehmen…“, stotterte Sabine fassungslos.
„Doch!“, sagte die Frau entschieden. „Ihr habt mir mein Armband wiederbeschafft, ich gebe euch Geld. Das Armband war ein Vielfaches davon wert.“
Ohne auf die Proteste der Mädchen zu achten, verschwand sie. Dann kamen die anderen an die Reihe.
„Entschuldigung“, sagte eine Stimme plötzlich hinter ihnen. „Ich wollte nur noch sagen, dass…“ Die Mädchen trauten ihren Augen nicht: es war Dominik.
„Es tut mir leid Lea, dass ich dir ein Bein gestellt habe. Ich dachte nur, es wäre wieder so eine…“
„Mädchensache?“, riefen die Mädchen im Chor.
„So ähnlich“, brummte Dominik und wurde rot. „Das ist übrigens Beate“, stellte er seine Freundin vor. Beate bedankte sich dafür, dass die Mädchen ihr Schlauchboot wiederbeschafft hatten.
Am Ende des Tages waren Lea, Sara und Sabine so voll gefuttert mit all den Süßigkeiten, die sie geschenkt bekommen hatten, dass Lea sagte, wenn sie auch nur noch einen Bissen zu sich nehmen würde, würde sie vermutlich platzen.
Sie waren nur froh, als sie am Abend glücklich und zufrieden in ihre Betten fielen.
„Das war toll“, sagte Lea, als sie schon im Bett lagen. „Aber ich will kein solches Abenteuer mehr erleben! Die letzten Tage haben mir gereicht!“
„Ach, wieso?“, fragte Sabine. „Ich finde, es hat richtig Spaß gemacht, Thomas zu jagen und ich wäre froh, wenn wir noch mehr Diebe überführen könnten. Das wäre doch was! Was meinst du, Lea?“
Aber Lea schlief schon.

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Autorin / Autor: Marianna Glanovitis - Stand: 22. Juli 2010