Bericht aus einer "no-go-area"

Interview mit Melanie Haller - einer Sophie Scholl von heute

Sophie Scholl wird zur Zeit von allen bewundert, die den Kinofilm über ihre letzten Tage gesehen haben. Viele fragen sich, ob sie auch so mutig wären und so standhaft. Das Thema gehört aber nicht nur in die Vergangenheit. Auch heute gibt es noch oder wieder Nazis, in Stadträten und als prügelnder Mob auf der Straße. Und es gibt supermutige Menschen, die sich nicht einschüchtern lassen und etwas dafür tun, dass diese braune Gesinnung verschwindet. Zu diesen mutigen Menschen zählt zum Beispiel Melanie Haller. Sie ist 27 Jahre alt und leitet in der sächsischen Kleinstadt Wurzen das "Netzwerk für Demokratische Kultur e.V.", kurz NDK, dass sich für eine demokratische Zivilgesellschaft einsetzt und gegen Rechtsradikalismus engagiert. Wir haben ihr für Lizzynet Fragen gestellt:

*Rosi* Erzähl doch mal was über Wurzen? Wer wohnt da so alles? Und wie ist die Stimmung in deiner Stadt?

*Melanie* Wurzen ist eine Kleinstadt in Sachsen, 25 Kilometer östlich von Leipzig. Sie hat noch etwa 15.000 Einwohner. Da die Arbeitslosenquote bei etwa 16 % liegt, sind leider viele junge, vor allem gut ausgebildete Leute gezwungen, wegzuziehen. Es gibt nur wenige Firmen, die deutschlandweit bekannt sind, wie z.B. die Wurzener Nahrungsmittel GmbH. Sicher habt ihr schon mal Erdnussflips gegessen, auf denen das Logo „Wurzener“ steht. Infrastrukturmäßig ist Wurzen eigentlich ganz gut ausgestattet: es gibt ein Schwimmbad, ein Gymnasium, ein Berufsschulzentrum, zwei Mittelschulen, eine Bibliothek, ein Museum und eine hübsche Fußgängerzone, außerdem das alte Bischofsschloss und einen berühmten Dom. Der bekannte Dichter Joachim Ringelnatz ist der wohl berühmteste Sohn der Stadt. Optisch ist Wurzens Stadtzentrum wirklich schön, aber alles ist recht verschlafen. Nach Ladenschluss ist die Fußgängerzone schlichtweg ausgestorben.

Nix los in Wurzen

*Melanie* Kulturangebote gerade für Jugendliche sind inhaltlich meist schwach. Es gibt etwas Hochkultur, z.B. klassische Konzerte im Dom, Ausstellungen im Museum oder der Galerie, aber die meisten Veranstaltungen sind Anglertreffs, Stadtfest und ab und an mal eine Disco oder Fahrradtour. Eine Selbstbeteiligung von Jugendlichen wird dabei überhaupt nicht gefördert. Die meisten Jugendlichen fahren nach Leipzig, wenn sie was unternehmen wollen; ins Kino, ins Theater, in die Disco oder einfach nur mal nett was Essen oder Trinken gehen. Die Stimmung in Wurzen ist dementsprechend recht niedergeschlagen. In unserer Medienwerkstatt hat mal eine Gruppe Jugendlicher einen Film gemacht und Leute auf der Straße befragt, was sie von Wurzen halten. Eigentlich waren alle unzufrieden, aber keiner wollte selber etwas verändern, der allgemeine Tenor war: Es bringt ja doch nichts. Die Leute, die sich hier im NDK engagieren sind eigentlich eine Minderheit. Viele von ihnen wären sicher auch schon längst abgewandert, wenn es das NDK nicht gäbe. Leider wird das NDK von vielen Wurzenern immer wieder als links oder sogar linksextremistisch eingestuft und nicht ernst genommen. Dabei richten wir uns ausdrücklich an alle BürgerInnen dieser Stadt. In unserem Beirat sind anerkannte Persönlichkeiten vertreten: so z.B. eine Ärztin, ein Optiker, ein Gemeindepädagoge, der Chef des Bauamts. Ich habe oft das Gefühl, dass jemand, der die Missstände in der Stadt aufzeigt (vor allem das Problem mit den Rechtsextremen) gleich als Nestbeschmutzer gilt. Alle regen sich über schlechte Schlagzeilen in der Zeitung auf, aber nur wenige packen das Problem an.

Räume, in denen Angst herrscht

*Rosi* Wurzen ist ja bekannt geworden durch seine traurige Tradition rechtsextremer Gewalt. 1991 überfielen Neonazis das Flüchtlingsheim in Wurzen und schlugen die BewohnerInnen zusammen. Dann schlugen glatzköpfige Skins auf portugiesische Bauarbeiter ein und verprügelten Fußballer aus der Pfalz. Nach und nach erlangte Wurzen den zweifelhaften Ruf, eine sogenannte "national befreite Zone" zu sein. (Was sagst du überhaupt zu diesem Begriff?) Wie ist das heute? Gibt es überhaupt noch MigrantInnen, Punks, AsylbewerberInnen und andere "Andere" in Wurzen? Und wie geht es denen dort?

*Melanie* Den Begriff „national befreite Zone“ verwenden wir eigentlich nicht, weil sich die Neo-Nazis den ausgedacht haben. In der Sozialwissenschaft bzw. –pädagogik werden eher die Begriffe no-go-area oder Angsträume verwendet. Wurzen war nahe dran, eine solche area zu werden – keine Frage. In den letzten Jahren hat sich die Situation schon zum Positiven geändert, aber es gibt noch immer genug Angsträume. Von bestimmten Tankstellen, Kneipen, Spielplätzen oder Parks hält man sich besser fern, weil man weiß, dass sich dort die Rechten treffen. Zum Stadtfest oder auf den Rummel geht man erst gar nicht, weil Ärger dann vorprogrammiert ist. Die rechte Szene hat in der Stadt feste Treffs, z.B. in Form von Bandproberäumen und es gibt sogar einen Laden, in dem das Label „Front Records“ seinen Sitz hat. Das spielt sich aber alles natürlich irgendwie im Verborgenen ab, sozusagen halblegal. Wir beobachten diese Entwicklungen sehr kritisch und versuchen, das in der Öffentlichkeit bekannt zu machen.

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Autorin / Autor: Rosi, Melanie - Stand: 24. März 2005