Wie Kinder, nur anders

Zu Hause mit Opa

Wenn man an Großväter denkt, dann meistens an solche, die ihren Enkeln Schokolade kaufen, selig lächeln und Pfeife rauchen. Mein Opa kann keine Pfeife mehr rauchen, selbst wenn er es wollte. Er ist 98 Jahre alt. Ein Alter, das sich schon morgens beim Aufstehen bemerkbar macht.

Nicht selten sitze ich am Frühstückstisch und beantworte die gleiche Frage zum dritten oder vierten Mal. „Was ist denn heute für ein Tag?“ „Sonntag.“ Kurz darauf: „Warst du heute schon in der Schule?“ „Opa, es ist Sonntag!“

Doch selbst, wenn sich mein Opa alles auf Anhieb merkt, versteht er es manchmal einfach nicht, wenn er seine Hörgeräte noch nicht anhat. Apropos Hörgeräte, wo sind die überhaupt? Und schon sind wir beim nächsten Hindernis, denn die Augen wollen auch nicht mehr. Klar ist alles auf seinem bestimmten Platz, aber selbst der muss erst gefunden werden. Und so tastet mein Opa nach der Zuckerdose, dem Geldbeutel, dem Sessel …

Ein Artikel von

*Vom Wollen und Können*
Aber das wahre Problem besteht nicht in der schwindenden Hör- oder Seh-, sondern in der nachlassenden Geisteskraft. Bis mein Opa vor einem Jahr zu uns gezogen ist, war mir nicht im Geringsten bewusst, was mein Denkvermögen im Alltag alles leistet. Das wird mir jetzt klar, wenn mein Opa nach einem kurzen Mittagsschlaf glaubt, ein neuer Tag sei angebrochen. Oder wenn er sich in unserem überschaubaren Garten fast verirrt.

Vor gerade einmal drei Jahren pflanzte mein Opa noch Tomaten in seinem eigenen Garten und wohnte auch sonst ganz allein. Aber heute noch Geschirr abspülen oder gar Lebensmittel einkaufen? Undenkbar! Das gehört einer anderen Zeit an, in der auch mein Opa für mich Süßigkeiten bunkerte und seine Zeitung noch selbst lesen konnte. Heute lese ich ihm manchmal vor, um etwas Abwechslung in seinen Alltag zu bringen.

Vor einiger Zeit las ich ihm aus dem Feuilleton einen Artikel vor, der auch für mich anspruchsvoll war. Umso erstaunter war ich, als ich mit meinem Opa am Ende darüber reden konnte. In 98 Jahren steckt eine Menge Lebenserfahrung. Es war toll zu merken, zu welchen Gedankengängen mein Opa noch fähig ist.

*Zeit, Humor und ein bisschen Sonne*
Es ist ein besonderes Gefühl, jemandem Lebensfreude zu vermitteln. Bei meinem Opa reicht dafür schon ein kleines Gespräch oder gutes Wetter, und seine Welt scheint in Ordnung. Wenn er dann lacht, ist er wieder der Opa von früher. So ein Lachen gibt mir viel Hoffnung und zeigt mir, dass es nie so schlimm ist, wie man meint. Die Dinge mit Humor zu nehmen, heißt, sich von großen Lasten zu befreien. Selbst die ewige Leier von gleichen Sprüchen hat etwas Goldiges. Seinen Lieblingsspruch höre ich mindestens einmal am Tag: „Kaffee trink ich gerne, aber süß muss er sein.“ Und prompt fallen fünf Stück Würfelzucker in die Tasse.

Durch meinen Opa habe ich gelernt, den Alltag gelassener zu sehen. Kein Einser Abitur, na und? Unsere eitlen Sorgen werden so nebensächlich, wenn ich mir anschaue, was später vom Leben bleibt.

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Autorin / Autor: Anika Pfisterer - Stand: 16. Juni 2008