Bericht von einer, die sich ritzte

... Macht und die Freiheit mit meinem Körper zu tun, was ich wollte...

*Ist das eine Art Sucht, so wie Bulimie oder wie würdest du es nennen?*

Nein, meiner Meinung nach nicht. Sucht ist für mich damit verbunden, eine physische und psychische Abhängigkeit zu empfinden. Ich empfand mich nicht als abhängig. Das Ritzen ist vielleicht eine Vorform der Sucht. Aber noch eher war es für mich eine Ausdrucksform. Ich fing aus "heiterem Himmel" an, wie einer Laune nachgebend und ich hörte recht abrupt damit auf, ohne dann an Entzugserscheinungen zu leiden.

*Was hast du empfunden, wenn du dich geritzt hast? Wie war dein Gefühl vorher, währenddessen und danach?*

Wie schon gesagt Macht und die Freiheit mit meinem Körper zu tun, was ich wollte. Es fing meist damit an, dass dieser explosive Gefühlscocktail, der in mir gärte (Wut, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Frustration und Ohnmacht) aus einer Stimmung oder einem Ereignis heraus hochkochte (Ärger in der Schule, zu Hause oder mit einer Freundin). Ich wollte schreien, weinen und alles kaputtschlagen gleichermaßen, und ich hatte das Gefühl, wenn ich damit anfing, nie wieder aufhören zu können. Dieses Gefühlschaos verursachte mir Schmerzen, also nahm ich eine Rasierklinge und zog sie mir durch's Fleisch. Ich genoss diesen "Gegenschmerz". Ich mochte es sehr, mein Blut zu sehen. Es verschaffte mir Linderung, wie ein Aderlass. Danach fühlte ich mich stärker, ruhiger und gelassener.

*Hast du Narben davon behalten?*

Nein, und ich bin froh darüber.

*Was glaubst du, warum so viele Mädchen sich ritzen?*

Spontan fällt mir dazu das Gefühl der Unterdrückung ein. Mädchen und Frauen lassen sich immer noch sehr unterdrücken. Das Heranwachsen vom Mädchen zur jungen Frau ist mindestens genauso mit Agressionen und unkontrollierten Hormonschüben gespickt wie das der Jungen. Nur Mädchen dürfen das immer noch nicht rauslassen. Von frühster Kindheit an werden wir gelehrt, uns zusammen zu reißen und Schmerz zu erdulden. Jungs dürfen sich z.B. prügeln oder wild sein. Da wird nachsichtig gelächelt. Bei Mädchen wird das ab einem gewissen Alter nicht mehr als lustig, sondern als peinlich angesehen. Plötzlich verändert sich alles. Mit dem Wachsen der Brüste und dem Beginn der Menstruation lernen wir, weitere Schmerzen zu erdulden. Keiner sagt uns, wie wir diese Schmerzen und die in uns aufgestaute Energie transformieren können. Die Mädchen fühlen sich unverstanden, überfordert und alleine gelassen. Der ideale Nährboden für autoagressives Verhalten und Schlimmeres. Ganz zu Schweigen davon, wenn noch problematische Familienverhältnisse oder Schulprobleme dazu kommen. Das reinste Chaos kann dann in einer Seele losbrechen.

*Was denkst du, kann ein Mädchen tun, das in diesen Kreislauf des Ritzens gerät?*

Ich möchte hier eine Gegenfrage stellen: "Was kann die Gesellschaft tun, um den Mädchen zu helfen da raus zu kommen?" Wie wäre es z.B. mit Einrichtungen von Frauen geleitet für Mädchen und heranwachsende Frauen? Ich stelle mir da ein Modell vor, das den Mädchen eine breite Palette an Ausdrucksmöglichkeiten bietet, reichend von Meditation über Theater, Tanz, Kunst, Musik, Schreiben und auch Sport. Als Mitarbeiterinnen stelle ich mir Künstlerinnen, Schauspielerinnen, Musikerinnen, Schriftstellerinnen und Yoga-Lehrerinnen vor. Es ist doch so: In jeder dieser sensiblen Seelen steckt doch eine Künstlerin. Mittels Meditation können die Mädchen lernen, zu sich selbst zu kommen, und der Rest dient der Ausdrucksmöglichkeit. Pädagoginnen und Therapeutinnen, bei denen die Mädchen durch Gespräche Trost und auch praktische Hilfe finden können, stehen natürlich auch zur Verfügung. Das ist wie bei Initiationsriten der Urstämme, in denen die Frauen auch immer unter sich sind und die Jüngeren im Leben unterweisen. Nun das ganze auf unsere moderne Zeit abgestimmt. Sie können dort geschützt zu jungen Frauen heranwachsen. Meiner Meinung nach sind die Mädchen, die sich ritzen, als einzelne meist viel zu schwach und zu verzweifelt, um da selbst heraus zu finden. Sie brauchen einen wirklich freundlichen und vor allem liebevollen Ort, an den sie sich immer wenden können, wenn sie das wollen.

*Gibt es einen schönen Satz, denn du dir selbst sagst, wenn du Schmerz empfindest?*

Ich glaube das Wichtigste ist, sich lieb zu haben auch wenn man "Scheiße gebaut" hat oder sich gerade hässlich fühlt. Vor allem dann, wenn man sich von niemandem geliebt fühlt. Es ist ein großer Schritt, sich genau in diesen Momenten innerlich und auch wirklich in den Arm zu nehmen und sich zu sagen: "Und ich habe mich trotzdem ganz doll lieb!"

*Tausend Dank für das Interview :-)*

Hier noch einige Links zum Thema

Autorin / Autor: Rosi Stolz und Eva - Stand: 29. September 2003