Schicksalswege

Wettbewerbsbeitrag von Johanna Lammers, 13 Jahre

Liebe Mama, lieber Papa!

Ich weiß, dass ihr diesen Brief nie bekommen werdet, an Tote kann man schließlich keine Briefe schreiben. Trotzdem muss ich jemandem von all dem, was ich erlebt habe, erzählen.
Wisst ihr noch, wie wir am ersten Adventssonntag in Köln auf dem großen Weihnachtsmarkt waren? Damals war ich neuneinhalb Jahre alt. Wir waren zwischen den Ständen umhergeschlendert, hatten rumgealbert und gemeinsam gelacht. Ihr habt Glühwein getrunken und ich heißen Kakao.
An einem Glühweinstand hast du mir sogar erlaubt dein Getränk zu probieren, Papa. Mir hat es ganz gut geschmeckt, doch Mama fand das überhaupt nicht gut. „Du weißt genau, dass Emma erst neun Jahre alt ist! Du kannst ihr doch keinen Glühwein geben, sie wird das Zeug noch früh genug trinken!“, zornig hatte sie dich angeblitzt. Wie so oft hast du einfach nichts gesagt, wieso hast du dich eigentlich nie durchgesetzt Papa?
Heute kann ich sagen, dass es mir wirklich leid tut, dass ich nicht einfach geschwiegen, sondern euch immer weiter provoziert habe. Sonst wäre es vielleicht gar nicht zu dem Unfall gekommen…
Habe ich aber nicht. Wie ihr bestimmt noch wisst, habt ihr mich dann ins Auto verfrachtet und wir wollten nach Erfurt fahren, nach Hause. Die Stimmung im Auto war angespannt, und ihr habt euch auf der Fahrt die ganze Zeit zischend unterhalten.
Irgendwann war ich dann wohl eingeschlafen. Als ich das nächste Mal wieder etwas wahrgenommen und gehört hatte, waren wir bereits auf der Autobahn. Ihr hattet euch lautstark gestritten, wahrscheinlich war ich davon auch wach geworden. Worüber hattet ihr euch so gestritten, dass sogar Papa rumgeschrien hat?

Später vermutete ich, dass es vielleicht um mich gegangen war, denn einmal hatte ich meinen Namen gehört. Jetzt wo ich älter bin, frage ich mich manchmal, ob ihr euch scheiden lassen wolltet. Aber ihr habt euch doch fast immer gut verstanden, wir waren doch eine glückliche Familie oder etwa nicht?
Ich hatte mein Gesicht in ein Kissen gedrückt und gehofft, dass ihr mit dem Streiten aufhören würdet. Doch statt aufzuhören hatte Mama angefangen, wild mit den Armen zu gestikulieren.
Ich weiß noch, wie erschrocken ihr mich angeschaut habt, als ich mich dann doch bemerkbar gemacht habe.
Dann war alles ganz schnell und doch irgendwie in Zeitlupe geschehen. Der kurze Moment, in dem Papa seine Aufmerksamkeit auf mich gelenkt hatte, hatte ausgereicht, um den Wagen ins Schleudern zu bringen. Irgendwie waren wir auf die gegenüberliegende Spur gekommen, als ein anderes Auto herangeschossen kam.
Ich habe gesehen, wie ihr vor Entsetzen geschrien habt, ob ich damals selber geschrien habe, kann ich nicht mehr sagen.
Wir waren frontal mit dem anderen Auto zusammengeprallt, ich hatte Blut spritzen sehen. Es war euer Blut und ich habe eure Schreie gehört, Todesschreie.
Das Auto war zur Seite geschleudert worden und hatte sich mehrfach überschlagen. Auf einmal war es so still gewesen, diese Stille werde ich niemals vergessen, niemals. Erst hatte ich gedacht, ob ich vielleicht tot bin, weil alles um mich herum schwarz gewesen war. Nach einigen Sekunden hatte ich dann gemerkt, dass ich nichts sehen konnte, weil ich die Augen fest zusammengekniffen und mir das Kissen vors Gesicht gedrückt hatte. Langsam hatte ich dann gewagt, das Kissen wegzunehmen und die Augen zu öffnen. Die Bilder, die ich dann gesehen hatte, brannten sich mir ins Gedächtnis.

Ihr habt beide aus mehreren Wunden an den Köpfen geblutet und ich hatte nicht sehen können, ob ihr atmet. Doch das hatte ich in dem Moment auch nicht wissen wollen.
„Mama, Papa!“, hatte ich nur wimmern können, doch ich hatte keine Antwort bekommen. Ich wollte weg, nur noch weg! Doch ich konnte nicht. Irgendwie hatte die Tür geklemmt. Dann hatte ich die Augen wieder geschlossen und nichts mehr hören oder sehen wollen.
Ab diesem Moment änderte sich alles.

Ich habe mir selbst immer wieder Vorwürfe gemacht und mir die Schuld an eurem Tod gegeben. Von meiner Umwelt wollte ich nichts wissen. Hätte ich nicht eure Aufmerksamkeit auf mich gezogen, wäre der Wagen nicht ins Schleudern geraten und es wäre nichts passiert. Eine Zeit lang habe ich mich sogar gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, wäre ich auch ums Leben gekommen.
Am Tag nach dem Unfall, hatten sie mir mitgeteilt, dass ich von nun an bei meiner Tante und meinem Onkel leben sollte. Die beiden waren nicht sehr erfreut über mein Dasein. Meine neue Schule dort war der letzte Mist und so habe ich mir nicht sonderlich Mühe gegeben. Es war mir schlicht und einfach egal. In dieser Zeit war mir fast alles egal, ich vermisste euch so!

Nur eine einzige Sache hat mir Halt gegeben, der Geigenunterricht. Nach langem Bitten und Betteln, hatte ich meine Tante überredet, dass ich wieder Geigenunterricht nehmen durfte. Ich übte pausenlos, was meine Tante nervte. Doch die Musik ließ mich meine Trauer um euch verdrängen.
Nach fast einem Jahr haben mich mein Onkel und meine Tante dann zur Rede gestellt, warum ich mir in der Schule keine Mühe gebe und überhaupt…
„Es ist mir egal“, war das Einzige, was ich sagte. Daraufhin musste ich meine Sachen packen. Am nächsten Morgen hat meine Tante mich dann weggebracht.

So bin ich schließlich im Waisenhaus gelandet. Dort ist es noch schlimmer gewesen als bei meiner Tante und meinem Onkel, da ich nicht einmal Geige spielen durfte. Es war dort wie im Gefängnis!
An einem Tag, als ich wieder besonders viel Stress hatte, habe ich es nicht mehr ausgehalten. Nachts habe ich all meine Sachen genommen und bin abgehauen.
Anschließend bin ich nach Köln, denn dort kannte man mich nicht und irgendwie erinnerte mich die Stadt an unsere letzten gemeinsamen glücklichen Stunden. Bei meinen Sachen war zum Glück ein alter Schlafsack dabei, sodass ich nachts nicht frieren musste.
Ich lebte unter einer Brücke am Rhein, denn dort war es sicherer als in irgendeinem Park. Tagsüber trat ich als Straßenmusikerin mit meiner Geige auf und schrieb sogar eigene Songs.

Ich habe nie etwas gestohlen, ich brachte es einfach nicht über mich. Auch das wenige Geld, das ich in unserer alten Wohnung gefunden hatte, sparte ich in der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Zukunft.
Das Leben auf der Straße war hart und oft auch gefährlich, doch es war für mich so etwas wie Alltag geworden.
Irgendwie habe ich mich dann mit einem Mädchen angefreundet, Lena heißt sie. Sie ist sogar in meinem Alter.
Jeden Tag kam sie und lauschte meiner Musik, nicht selten wanderte auch ein kleiner Schein in meinen Geigenkoffer. Wir haben uns immer gut unterhalten und bald erzählte ich ihr meine Geschichte.
Daraufhin nahm Lena mich mit zu sich und stellte mich ihren Eltern vor. Es waren liebenswerte Menschen, die mich bald in ihr Herz schlossen.
Mit Lenas Hilfe haben sie mich als Pflegekind aufgenommen und wie ihre eigene Tochter behandelt. Sie freuen sich immer über mein Geigenspiel.
Heute zu meinem 13. Geburtstag, haben sie mir das allergrößte Geschenk gemacht: Sie haben mich adoptiert. Ich glaube, sie lieben mich wirklich.
Ich habe endlich wieder eine Familie und Lena als meine Schwester.
Man darf nie die Hoffnung aufgeben.

Ich werde euch nie vergessen.
Eure Emma

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.