Gestohlener Engel

Wettbewerbsbeitrag von Smilla, 13 Jahre

Mal wieder drehten sich meine Gedanken in meinem Kopf. Dunkel und ständig im Kreis. Ich lag auf dem staubigen Boden, auf dem früher sie gesessen hatte, ich starrte die jetzt leere Wand an, die sie angestarrt hatte. Ich fühlte mich so leer, so unendlich leer. Es gab kein Wort mit dem ich beschreiben konnte, wie sich diese schreckliche Stille anfühlte. Das Mädchen in dem kleinen alten Spiegel an der Wand schien mich auszulachen; dabei sahen ihre Augen so müde und stumpf aus. Das Mädchen im Spiegel war so etwas wie meine Freundin für mich geworden, in all den Stunden, die ich in diesem leeren, kleinen Raum verbrachte. Dem Raum. Und wieder überwältigten mich die Erinnerungen, an gute und schlechte Tage, an glückliche und traurige Stunden, an Vertrautheit und Schmerz und endlose Liebe... und schließlich war da die Leere wieder. Wie in diesem Raum, diesem komplett leeren Raum. Nur das Mädchen im Spiegel gab es noch in diesem Raum, sie war immer da, die ganze Zeit, viele Stunden und Tage lang und sie ging nie. Manchmal kam es mir so vor, als ob das Mädchen eingesperrt war, eingesperrt in einen Gegenstand und manchmal, in schwachen Momenten wünschte ich mir, wie sie zu sein, denn sie konnte sich auf immer gleiche Dinge verlassen. Doch dem Mädchen im Spiegel ging es nicht gut.
In den ersten Stunden in diesem Raum hatte sie mit mir geweint; doch schließlich war sie verstummt und ihr Gesicht war zu einer steinernen Maske geworden. Einzig in ihren Augen sah ich an manchen Tagen einen Funken. An manchen Tagen beobachtete ich das Spiegelmädchen. Ich beobachtete sie, während sie sich hin und her wiegte oder während sie still in einer Lethargie versank. Und das Spiegelmädchen schaute mich an und sie schaute und schaute stundenlang.
Der Raum war gefüllt gewesen, und nun war nur noch ich da. Aber nicht nur der Raum war leer, auch mich gab es nicht mehr und mit jeder Stunde in diesem Raum zehrte er mich weiter aus und ich schwand und schrumpfte und irgendwann würde meine Existenz vergessen sein. Vor vielen Stunden und Tagen und Jahren hatte Dee mir einmal erzählt, dass sie ihres Lebens überdrüssig war. Und ich verstand sie nicht, war ich doch naiv und konnte nicht damit umgehen. Und ich habe sie ausgelacht und sie verschloss sich mir. Damals hatte ich sie einfach nicht ernst genommen.
Und dann war sie weg; einfach weg. Ich konnte es nicht glauben und ich glaube es auch immer noch nicht. Doch wenn ich das Mädchen im Spiegel anschaue, sehe ich in ihren Augen, dass sie es glaubt. Und es muss wahr sein, sonst würde ich mich nicht so leer fühlen, so als gäbe es nichts mehr in mir, so als wäre ein großes Stück meiner selbst aus mir herausgerissen worden. Ich glaubte nicht an "übersinnliche Kräfte" - ich hatte jeden Glauben verloren - aber Dee war so etwas wie ein Engel für mich gewesen. Sie war ein Engel gewesen, der mich stets begleitet hatte und viel zu früh ging; als ich ihn noch brauchte. Meine kleine Schwester. Wie immer herrschte Stille in diesem verdammten Raum, denn weder ich noch das Spiegelmädchen sagten ein Wort. Als der Raum noch gefüllt war mit Leben und Lachen hatte mich der Lärm immer genervt und jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ihr Lachen zu hören; ihr Lachen dass nun verstummt war. Ihr Lachen, das irgendwo in einem eiskalten Fluss ertrunken war, ertrunken mit ihr, in dem Moment als sie gesprungen war. Warum sie gesprungen war, hatte ich nicht begreifen können und nun... nun stand ich beinahe selbst auf der Brücke.
Draußen ging die Sonne unter und ich rollte mich zusammen und schloss meine Augen. Doch das Chaos in meinem Kopf hinderte mich daran einzuschlafen. Ich schob es wie immer in irgendeinen Winkel in mir, es gab genug Leere.
Ich war komplett allein. Es gab nichts und niemanden an diesem Ort, in diesem Raum. Hatte es einmal etwas anderes gegeben als dies, so hatte ich vergessen. Durch die vielen tausenden Stunden war es unwichtig geworden, so unwichtig wie ich ohne meine Schwester, meinen Engel geworden war.
Ohne sie gab es nichts.
Ich verließ den Raum.
Ich wartete bis die letzten Leute gegangen waren, dann stieg ich vorsichtig auf das Brückengeländer. Es fühlte sich nicht richtig an. Ich würde nicht mehr existieren und niemand würde sich an mich und meine Schwester erinnern. Doch niemand würde es kümmern, ich war allein und niemand würde innerlich durch meinen Sprung zerrissen werden.
Es gab niemanden.
Ich senkte den Blick. Ich war bereit, ihr zu folgen. Ich war bereit. Das Wasser war schmutzig braun und die Strömung riss kleine Stöcke und Zweige mit sich. Und ganz verzerrt meinte ich erst Dee zu sehen. Doch es war das Spiegelmädchen. Ein Funke begann tief in mir zu glühen und spiegelte sich in ihren Augen wider. Nein, ich war nicht allein. Das Spiegelmädchen, das sich nie fortbewegte, war mit mir gekommen. Ihr Blick schien sich in meinen zu bohren.
Wenn ich jetzt sprang, würde das Mädchen in tausende Stücke zerrissen und von der Strömung weggetragen werden. Und ich, ich würde am Grund liegen. Meine Schwester war gesprungen. Hätte sie gewollt, dass ich mein Leben einfach hinwarf? Hätte sie zugelassen, dass ich einfach die Hoffnung aufgab? Dass ich einfach zuließ, dass wir nicht mehr existieren würden? Sie hätte erwartet, das ich stärker wäre als sie. Das Mädchen im Fluss schaute mich an. Ihre Augen glänzten und ich sah eine Träne ihre Wange hinunterkullern. Und da bemerkte ich, dass auch ich weinte. Es war eine Befreiung und ich brach in hemmungsloses Schluchzen aus. Ich brach auf der Brücke zusammen. Eine Note drang in mein Bewusstsein. Sie schien tief aus mir zu kommen, und doch kam es mir unwirklich vor.
Es war ein Lied, das ich seit meiner Kindheit kannte und das ich nie vergessen würde; das Lied, das mein eigenes kleines Ich immer gesungen hatte. Und der Schmerz überkam mich erneut, so heftig das ich beinahe blind wurde. Aber er würde aufhören. Eine lange Zeit später ließ er nach und mein Kopf fühlte sich klarer an. Ich wusste, das ich weiterleben konnte. Weiterleben musste. Der Schmerz war da, ja, und er tat weh. Aber es gab so viele schöne Erinnerungen, an mein kleines Ich und an meine Schwester. Ob sie wohl nicht gesprungen wäre, wenn sie jemanden gehabt hätte, wie ich das Spiegelmädchen? Aber es war nicht meine Schuld, und es ließ sich nicht ändern. Das Spiegelmädchen im Wasser schaute mich an, so wie sie es schon viele Tage und Stunden lang getan hatte. Ich wusste nicht, ob ich den Verlust meiner Schwester jemals verkraften konnte, aber ich musste es versuchen, für sie. Für meinen gestohlenen Engel.
Ob ich jemals wieder glücklich sein würde, wusste ich nicht. Das Wasser unter der Brücke floss und floss und das Spiegelmädchen löste sich langsam auf. Was mochte mit ihr geschehen? Würde sie je wieder glücklich sein? Wir wussten es beide nicht, doch für den Moment lächelte sie.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Smilla, 13 Jahre