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Wettbewerbsbeitrag von Charis Heck, 15 Jahre

Sie saßen dort jeden Tag.
Der alte Mann und das junge Mädchen, immer auf der gleichen Bank, von der die rostrote Farbe allmählich abblätterte und zu echtem Rost wurde. Der Mann starrte auf die Gruppe von Krokussen, die neben der Bank blühten, oder auf die den Himmel spiegelnde Pfütze vor ihnen, wenn es geregnet hatte, oder auf die Schlange von Ameisen, die sich bei regelmäßigen Umzügen die Äste und den Stamm des nahe stehenden Baumes herabschlängelten, während das Mädchen munter vor sich hinplapperte. Der Mann sah oft ihre Spiegelung in der Pfütze, ihre kastanienbraunen Haare, die weite blaue Jacke, und im Augenwinkel die roten Schuhe, wie sie Steine über die Straße schossen. Aber die Spiegelung im Wasser wurde oft durch die Schritte der vorbeieilenden Passanten und rasenden Autos erschüttert, die sich nicht um die zwei Menschen auf der Bank kümmerten, und ihr Gesicht und ihre Augen wurden zu verwackelten Momentaufnahmen – nasse Farbe, von einem breiten Pinsel verwischt.
Der alte Mann sah nie in ihr Gesicht.
Auch jetzt sah er sie nicht an, als sie redete und lachte, plapperte und von vielen Dingen erzählte. Von dem Apfelkuchen ihrer Mutter, der die ganze Küche nach Zimt riechen ließ, den Bäumen auf dem Schulweg, mit deren Blättern sie um die Wette tanzte, und von dem Fluss, der ihr Geschichten zumurmelte, die sie irgendwann einmal aufschreiben wollte.
Das Plaudern neben ihm verstummte und nur das Rascheln eines auf dem Boden aufkommenden Blattes war zu hören, bis er merkte, dass ihm eine Frage gestellt worden war. Er versuchte, die Antwort in seinem Kopf greifbar zu machen, aber im Hintergrund seiner Gedanken war nur das Knacken aufbrechender Kastanien zu hören. Er räusperte sich, um die Antwort hinauszuzögern und spürte neben sich das Mädchen an seinem Ärmel zupfen.
Sie würde ihm keine Ruhe lassen, deshalb erzählte er ihr von dem Buch, das er schrieb, von der Abgabefrist in drei Wochen. Er merkte, wie neben ihm keine Steine mehr von unruhigen roten Schuhen hin und her geschossen wurden und erzählte von dem kleinen Mädchen, von dem sein Buch handelte. Von den Dingen, die sie erlebte in der Schule und Zuhause, von dem Apfelkuchen ihrer Mutter, den sie so mochte, von den Träumen, die sie gehabt hatte. Dann von einem Unfall, nach dem sie ins Koma fiel; wie froh ihre Eltern waren, als sie nach Tagen endlich wieder aufwachte. In dem Buch erzählte er, wie das Mädchen aufwuchs und die Dinge vergaß, von denen sie als Kind geträumt hatte, wie sie stattdessen den Träumen ihrer Eltern folgte, studierte, eine Firma gründete und damit viel Geld verdiente. Schließlich fand sie einen Mann, den sie liebte und heiratete. Gemeinsam zogen sie in ein anderes Land – die Eltern und ihre Kindheit, vergaß sie. Aber nach einiger Zeit starb ihr Mann, sie kehrte zurück zu den Bäumen in ihre Heimatstadt, aber auch ihre Eltern waren gestorben. Sie war allein. Allein unter den Bäumen, mit nichts als ihren Erinnerungen. Doch auch die ließen sie einsam zurück und sie merkte, dass ein Leben ohne Menschen, die sie lieben konnte, und Träumen, die sie träumen konnte, nicht lebenswert war, dass es besser gewesen wäre, sie wäre mit ihnen gestorben.
Der Mann schwieg, auch das Mädchen schwieg jetzt. Sie beobachteten beide die Leute, die vorbeikamen, ein Mann mit einer Zeitung unter dem Arm, zwei Schuljungen, die sich gegenseitig anrempelten, eine junge Frau mit Hund.
Das Mädchen sprang auf, als ein Bus vor der Bank zum Stehen kam und lief auf die sich öffnenden Türen zu. Bevor sie hineinsprang, drehte sie sich um und sah dem Mann in die Augen.
„Das ist eine traurige Geschichte.“
Der Mann schaute lange auf die Ecke, hinter der der Bus verschwunden war, bevor er aufstand. Die junge Frau mit dem Hund blickte ihm nach, als er langsam weg ging. Er tat ihr leid, wie er dort jeden Morgen einsam auf der Bank saß und Selbstgespräche führte.
Jetzt ging er langsam am Fluss vorbei, vorbei an den Bäumen, die ihre buntgefärbten Blätter durch die Luft und in das stille Wasser trudeln ließen. Schweigend durch die Straßen, bis er an die Tür seines Hauses kam und sie aufschloss.
Er vergaß, Mantel und Schuhe auszuziehen und setzte sich vor die dicht beschriebenen Blätter auf seinem Schreibtisch. Sein Blick verschwamm und vor sich sah er das Bild seiner Tochter, mit braunen Haaren, der weiten blauen Jacke und den roten Schuhen, seine Tochter, die von einem Bus angefahren worden war und nicht mehr aus dem Koma erwachte, die weder ihre noch seine Träume hatte leben können und die er trotz seines vielen Geldes verloren hatte. Wie auch seine Frau und seine Freunde, wie alles, was ihm einmal etwas bedeutet hatte im Leben, bis ihm nichts geblieben war bis auf die Einsamkeit und Bitterkeit, die jeden Winkel in ihm erfüllte, und der Versuch, mit seinen Erinnerungen einen Teil seiner Tochter in einem Buch am Leben zu erhalten. Er sah den Blick aus ihren blauen Augen auf sich ruhen und spürte, wie Tränen von den Falten seiner Mundwinkel auf seine Hände und das Papier rannen. Er zerriss die feuchten Seiten.
Es war eine traurige Geschichte. Keine, die das Mädchen auf der Bank lesen würde. Keine, die sie gelebt hätte. Mit dem Geruch von Zimt und Apfelkuchen in der Nase begann der alte Mann zu schreiben, und als er die Träume seiner Tochter zur Wirklichkeit machte, fühlte er sich ein Stück weit weniger einsam.


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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Charis Heck, 15 Jahre