Die Kehrseite des Verlierens

Wettbewerbsbeitrag von Marlena, 18 Jahre

„Es tut mir sehr leid, Frau Kraus, aber ich fürchte, durch unsere schlechte finanzielle Lage und die daraus resultierenden Mitarbeiterkürzungen werden sich unsere Wege in Zukunft trennen müssen.“
Ich starrte meinen Chef an oder besser ehemaligen Chef. Fünf Jahre gemeinsames Arbeiten, und so endete es. Hervorragend.
Mit Hab und Gut in einer Box unter meinem Arm lief ich im Anschluss die Straße runter nach Hause. Der Regen heute war eine tadellose Widerspieglung meiner Laune. Niederschmetternd und deprimierend. Auf dem Weg legte ich noch eine ungeplante Pause beim Arbeitsamt ein, falls die mir auf die Schnelle weiterhelfen konnten.
Negativ.
Als ich das Gebäude wieder verließ, war es bereits Zeit, meine Tochter vom Kindergarten abzuholen. Der Weg dahin war kurz und knapp, also die ungefähre Länge meines Zeitraums, um irgendeine Lösung für mein Problem zu finden. Während meine Augen die Fassade des Kitagebäudes scannten, ohne dabei irgendetwas aufzufassen, näherte ich mich immer mehr dem Eingang. Kurz bevor ich ihn erreichte, sprang die Tür auf und Romy stürmte heraus. Sie warf sich in meine Arme und ich musste einen Schritt nach hinten machen, um nicht umzufallen. Mit ihren wilden roten Haaren in meinem Gesicht hängend, begab ich mich ins Gebäude, um ihre Sachen zu holen. Ich spürte förmlich, wie die Hoffnungslosigkeit sich in meinem Auftreten widerspiegelte. Nichtsdestotrotz gab ich mein Bestes, wenigstens den Anschein einer glücklichen Person nach außen wiederzugeben, damit Romy sich keine Sorgen machen würde.
Mein Versuch bewies sich allerdings als schwieriger als gedacht, als Romy an der nächsten Straßenecke begeistert auf eine Eisdiele deutete und mich fragte, ob sie ein Eis bekommen könne. Die Worte fühlten sich wie Blei in meiner Kehle an, doch ich schluckte einmal schwer und sagte ihr dann in einer so besänftigenden Stimme wie möglich, dass wir in nächster Zeit auf derartige Kleinigkeiten verzichten müssten. Ihr enttäuschter Gesichtsausdruck zerriss mein Herz, aber anstatt meinen Emotionen Raum zu geben, griff ich ihre Hand und ging mit schweren Schritten nach Hause.
Am selben Abend fiel ich in mein Bett und faltete mich in mich selbst zusammen. Ich verkörperte die zu Leben gewordene Form von Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Angst. Zusätzlich war ich der festen Überzeugung, dass jeder Mensch, der es jemals zu sagen wagte, in schweren Situationen einfach das Kinn zu heben und auch nur die Idee des Aufgebens aus seinem Kopf zu verbannen, keine Ahnung hatte, wie unfassbar ziellos das Weitermachen sich manchmal anfühlen konnte.
Zum Glück war morgen ja auch noch ein Tag.
Es vergingen zwei Wochen, bevor ich meinen Eltern beichtete, dass ich meinen Job verloren hatte. Romy war gerade bei einer Freundin, und ohne zu riskieren, dass sie auch nur einen Fetzen des Gesprächs zwischen mir und ihren Großeltern mitbekommen würde, fiel mir das Reden gleich viel einfacher. Ich meine, es war immer noch nicht einfach per se, aber die Wahrscheinlichkeit einer Panikattacke oder etwas Derartigen fühlte sich Lichtjahre weiter entfernt an als normal. Hätte ich allerdings darauf vertraut, neue Kraft aus den Worten meiner Eltern zu schöpfen, wäre ich wohl deutlich enttäuscht worden. Das Grundkonzept ihres Rates basierte wohl darauf, dass ich problemlos auch bei ihnen unterkommen könnte, wenn das Geld an irgendeinem Punkt in meiner Zukunft mal nicht mehr ausreichen sollte. Das war zwar objektiv betrachtet ein liebreizendes Angebot, nur verachtete ich als 25-jährige Frau, die ihr Leben lang großen Wert auf Eigenständigkeit gelegt hatte, allein den Gedanken, wieder bei meinen Eltern zu wohnen.
Ich wollte unabhängig sein.
Ich wollte jegliche Hürde, die sich mir in den Weg stellte, mit einzig meiner eigenen Kraft bewältigen.
Genauso wie ich es getan hatte, als Romys Vater Sam sich entschieden hatte, mit einundzwanzig noch nicht für ein Kind bereit zu sein. Oder wie, als ich mit siebzehn einen Monat täglich länger arbeiten musste, um mir ein neues Handy finanzieren, weil mein altes den Geist aufgegeben hatte. Wieder bei meinen Eltern einzusehen würde heißen, komplett neu anzufangen, und es mag vielleicht dumm und undankbar klingen, aber das sah ich einfach nicht ein.
In den Nächten, die dem Anruf mit meinen Eltern folgten, wachte ich oft panisch auf. Es fühlte sich an, als ob ich in einem Wassertank gefangen war, der sich Stück für Stück mehr mit Wasser füllte. Kalter Schweiß tröpfelte meinen Rücken runter, wenn ich daran dachte, in unbestimmter Zeit von den Mengen an Flüssigkeit ertränkt zu werden. Ich verlor langsam aber sicher, die Fähigkeit, meinen tatsächlichen Alltag von meinen Albträumen zu unterscheiden. Es war einfach alles zu viel.
Es geschah an einem Donnerstagnachmittag, nachdem ich zum wiederholten Male diesen Monat erfolglos von einem Jobinterview nach Hause gekommen war, dass ich endgültig zusammenbrach. Ich schleppte mich gerade so zitternd ins Wohnzimmer, bis auf einmal meine Sicht mit kleinen schwarzen Punkten gesprenkelt wurde und schließlich sich komplett schwarz färbte.
Das zweite Mal war genau eine Woche und vier Tage später.
Beide Male erwachte ich in einer menschenleeren, schaurig stillen Wohnung, da Romy noch im Kindergarten war. Beide Male verfluchte ich mich selbst dafür, eine so unglaublich sture Person zu sein und nicht doch die Hilfe meiner Eltern anzunehmen. Beide Male sanken meine Motivation, mein Selbstwertgefühl und das Level meiner Psyche gefährlich nah an ihren jeweiligen Tiefpunkt.
Ich realisierte relativ schnell, dass an den Tagen, an denen es mir besonders schlecht ging, Romy das Beste war, das mir im Leben hätte passieren können. Ein Blick auf ihr kleines, von Sommersprossen geschmücktes Gesicht und das darauf eingravierte Lächeln und die Dämonen, die in meinem Kopf wüteten, verpufften schneller als das Geld in meinem Sparkonto es jemals schaffen würde. Sie war zusätzlich auch der Motor, der mich vom Aufgeben abhielt.
Mein ganz eigenes Lebenselixier.
Besagtes Lebenselixier gewann noch einen ordentlichen Funken an Bedeutung, als sie eines Tages aufgeregt mit einem Brief in der Hand durch meine Schlafzimmertür sprintete und ihn mir anschließend mit einem riesigen Grinsen vor die Nase hielt. Ich nahm in ihr aus der Hand und öffnete ihn vorsichtig, während Romy sich auf den Boden hockte.
Hey Dana,
ich habe neulich eine deiner Kurzgeschichten wiedergefunden und mich an deinen Wunsch erinnert, etwas mit Schreiben als Beruf zu machen. Gesagt, getan habe ich sie daraufhin einem Freund mitgegeben, die bei so einer Agentur arbeitet. Ich glaube, deren Antwort könnte dir sehr gefallen… Melde dich doch mal. Ich glaube, wir haben einiges zu bereden.
Sam
Mein Herz galoppierte in meiner Brust als ich die Notiz zur Seite legte und den wirklichen Brief las.
Oh.
Mein.
Gott.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Marlena, 18 Jahre