Donnern im Kopf

Wettbewerbsbeitrag von Ella Stuppy, 15 Jahre

Die Wolken draußen sind leicht, fedrig, kaum sichtbar durch die Sonne, die mir ins Gesicht fällt. Ich habe es geliebt, mit meinem Vater stundenlang in die Wolken zu schauen und über Hasen, Einhörner und Drachen zu reden. Eine E.T.-ähnliche Gestalt. Ein Fuchs mit fluffigem Schwanz.
Eine Frau fragt mich freundlich, ob der Platz neben mir noch frei sei. Natürlich, antworte ich.
Ich steige aus. Auf dem Weg zu seiner Tür fallen mir schon die dunklen Kissen am Horizont auf, die für heute angesagt sind.

Leon öffnet mir die Tür und mir steigt ein köstlicher Geruch in die Nase. Er hat für mich gekocht. Es schmeckt ausgezeichnet. Wir liegen auf seinem Dach und genießen die letzten Minuten Sonne. Es ist unser Ritual, seit wir vor zwei Jahren zusammen gekommen sind. Er redet über die Uni, aber ich höre nicht zu. Seine Stimme ist ruhig. Der Himmel wird langsam dunkler. Ich beobachte, wie die Wolken sich von freundlichen Hasen langsam in dunkle Monster aus anderen Welten verwandeln.

Ein ganz seltsam drückender Schmerz in meinem Kopf. Ein weit entferntes Donnern. Seine Stimme ist nicht mehr ruhig. Ich versuche mich darauf zu konzentrieren, was er sagt. Er schreit, ich solle gehen. Es regnet. Er wolle mich nie wieder sehen. Ich renne durch den Regen. Triefend nass. Eine Frau rempelt mich an, packt mich am Arm und schreit mir feucht ins Gesicht, ich solle gefälligst besser aufpassen. Ich kann mich lösen und renne weiter. Über mir haben sich dichte, dunkle Wolken aufgebäumt. Ich verstehe es nicht. Ich renne.

Die Sonne scheint, als ich am nächsten Morgen aufwache. Noch verschlafen schaue ich auf mein Handy: „Wollen wir einen Kaffee trinken?“ Als wäre nichts passiert oder als hätte er es vergessen. Ich schaue aus dem Fenster und die Sonne strahlt mir durch vereinzelt fleckige Wolken ins Gesicht. Ich trinke den Kaffee, den meine Mutter mir gemacht hat und setze mich auf mein Fensterbrett. Ich versuche, nicht an gestern zu denken und beobachte den Himmel. Die Wolken ziehen vorbei. Ein Hase hat sich in eine Schlange verwandelt, eine alte Frau, die Frau Holle ähnelte, in ein Croissant und dieses wiederum in eine sich langsam immer weiter ausdrehende Streuselschnecke. In der Ferne sehe ich eine düstere Gewitterwolkenfront aufziehen und bin direkt in schlechter Stimmung. Seine Reaktion gestern kam mit der Verwandlung der freundlichen Hasen in düstere Monster am Himmel. So plötzlich. Als hätten die Wolken Einfluss auf ihn. Auch die Frau auf der Straße hat sehr ungewöhnlich reagiert. Als könnte die Verwandlung der Wolken die Menschen in Monster verwandeln.
Es beginnt zu nieseln. Viele dünne Tropfen. Wieder dieser seltsam drückende Schmerz im Kopf. Ein weit entferntes Donnern. Die Tropfen werden dicker, die Wolken dunkler und dichter. Wie ein schweres, dichtes Kissen, das versucht mich zu ersticken. Kein Entkommen möglich. So wie es aussieht, bahnt sich schon die nächste Katastrophe an.

Ich höre meine Mutter schreien. Meinen Vater auch. Seit wann streiten Sie? Das kann nicht sein. Er ruft, er wolle das alles nicht mehr. Er ist wütend. Wirklich wütend. Meine Mutter schreit in hohem Ton, dass er einfach gehen und nicht wiederkommen solle. Ich höre dumpfe Schritte und die Haustür zuschlagen. Ich stürme aus meinem Zimmer. Meine Mutter sitzt weinend auf dem Küchenboden, Kopf in den Händen, Kniee angezogen. Ich höre ein sehr nahes lautes Donnern. Meine Mutter schluchzt.

Ich renne los. Weg. Raus aus dieser Welt. Donnern über mir. So laut, als würde sich der Himmel über mir spalten. Mein Kopf kann nichts von alledem verarbeiten. Ich renne weiter, in meinen Hausschuhen, die mittlerweile durchnässt sind. Ich renne in eine dunkle Seitengasse. Es ist stürmisch und der Regen peitscht mir ins Gesicht. Ich bleibe stehen, schaue nach oben. Ich schreie die Wolken an, als könnten sie etwas dafür. Wieder ein lautes Donnern. Ich bemerke eine dunkle Gestalt, die auf mich zukommt. Breit gebaut, groß, mit schwarzen Stiefeln, schwarzem Mantel, der bis zum Boden reicht. Der Mann kommt näher. Ich werde panisch. Tiefe Schatten unter seinen Augen, ein drohend, düsteres, dichtes Tattoo, welches seinen Hals hochwandert, dicke Ketten, die um seinen Hals hängen. Mit langen Schritten kommt er auf mich zu. Seine Augen sind grau, grausam wie die Wolken am Himmel, sein Gesicht markant, von schwarzen Haaren umrandet.
In seiner Hand sehe ich etwas Silbernes aufblitzen. Instinktiv renne ich los. Sackgasse. Er ist direkt hinter mir, ruft mir nach. Ich drehe mich hilfesuchend um. Meine nassen Haare klatschen in mein Gesicht. Es donnert über uns. Ich schreie. Sein Messer schnellt auf mich zu. Ich sehe seine Augen aufblitzen. Ein Blitz breitet sich mit einem Knall über den ganzen Himmel aus.

Als ich meine Augen öffne, tut mein Kopf mein Kopf immer noch etwas weh. Die besorgten Gesichter meiner Eltern tauchen über mir auf. Meine Mutter neben mir: „Schatz, du bist schon wieder in Ohnmacht gefallen.“

Alle Infos zum Wettbewerb

Die Verwandelbar Sieger:innenehrung

Herzlichen Glückwunsch an die Preisträger:innen!

Teilnahmebedingungen und Datenschutzerklärung

Bitte lesen!

Die Verwandelbar-Jury

Die Jury verwandelt eure Einreichungen zum Schreibwettbewerb in wohlwollende Urteile :-)

Preise

Das gibt es im Schreibwettbewerb "Verwandelbar" zu gewinnen

Einsendungen

Die Beiträge zum Schreibwettbewerb Verwandelbar

Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Ella Stuppy, 15 Jahre