Reden helfe

Wettbewerbsbeitrag von Studentin, 23 Jahre

Ich liege auf dem Rücken auf meinem Bett und starre meine Zimmerdecke an. Sie kommt mir unglaublich weit entfernt vor. Mindestens drei Meter. Ich starre und warte. Warte darauf, dass sich etwas an der weißen Decke verändert. Dass die Spinne in ihrem Netz vielleicht nach rechts klettert, in der Mitte innehält und sich dann auf der Höhe meines Gesichtes abseilt. Ich frage mich, was dann passieren würde. Würde ich liegen bleiben, sie über mein Gesicht oder in mein Nasenloch klettern lassen? Vielleicht.
Aber die Spinne bleibt, wo sie und wie sie ist. Und die Zimmerdecke auch. Weiß, leer und völlig starr. Hätte ich Gedanken, so würden sie an dieser Decke abprallen, sich verletzen. Ich habe nie eine kühlere und herzlosere Zimmerdecke gesehen als diese über mir.

Früher aber habe ich es nicht abwarten können, nach einem lauten und eindrucksvollen Tag, die Tür hinter mir zu schließen, den Rucksack und die Jacke abzuwerfen und mich auf mein Bett zu pflanzen. Dann habe ich die Decke angeschaut. Die Decke war ein Tagtraumparadies, in dem das Erlebte tanzte. Ein Spiel der Lichter, der vorbeifahrenden Autos. Ein Schattenkino, in dem meine Pflanzen ihre Geschichten erzählten. Eine Oase der Ruhe, in der ich auftanken konnte.

Vor einer Stunde klingelte mein Wecker. Ich habe ihn ausgeschaltet und liege seitdem hier. Ich hätte in der Zeit können joggen gehen, hätte können duschen gehen, hätte können mein Zimmer aufräumen, hätte können weiterschlafen. Ich habe nichts davon getan. Ich frage mich, wozu andere Menschen aufstehen. Und ob sie gerne zur Arbeit gehen oder den Tag wirklich genießen.
Meine beste Freundin Anna sagte mal, sie fände diese Fragen von mir komisch. Sie fragte mich, ob ich traurig sei. Weil ich so viel zuhause sei. Ich bin es aber nicht. Ich spüre gar nichts. Ich bemühe mich, wütend über meine verschwundene Disziplin, traurig über meinen Zustand oder glücklich über mein Privileg des Nichts-Tun zu sein. Keines der Gefühle schlägt an und ich verstehe, was ein Herz aus Eis sein soll.
Anna meinte mal, ich solle mir einen Termin machen. Reden helfe. Ich habe nur die Schultern gezuckt. Abends habe ich dann einen Termin vereinbart. Die Frau am Telefon sagte, sie würde sich am Freitag bei mir melden.

Ich überlege, was ich der Frau am Telefon später sagen soll. In Gedanken eröffne ich eine Liste. Erster Punkt: Ich weiß nicht, wieso ich aufstehen sollte. Zweiter Punkt: Ich fühle nichts. Dritter Punkt.
Das Gespräch würde kurz werden. Ich richte mich auf und setze mich auf die Bettkante. Sie, sie würde sich verarscht vorkommen. Wieso nochmal hatte ich sie angerufen? Achso - Anna.

Ich wische den grünen Hörer nach rechts. „Hallo“, höre ich meine Stimme sagen. Diese Stimme klingt sehr nüchtern und monoton. „Hallo Emma“, kommt es aus dem anderen Ende der Leitung. „Tut mir leid, dass wir das heute telefonisch machen müssen. Ich bin leicht erkältet und möchte kein Risiko eingehen“. Ich schweige. „Über was möchtest du heute reden?“, setzt sie fort. Ich will eigentlich gar nicht reden. Anna will, dass ich rede. Am liebsten würde ich wieder auflegen. Verärgert sage ich dann doch: „Seit einigen Wochen bin ich völlig antriebslos. Ich wache auf und möchte nichts tun und dann tue ich auch nichts“. „Und gefällt dir das?“, fragt sie mich. Ich schlucke: „Mir ist das egal“. „Ich weiß aber, dass ich früher anders gewesen bin“, überrascht bemerke ich, dass bei diesen Worten meine Lippen leicht nachbeben. „Wie warst du denn früher?“.

Ich antworte nicht direkt und überlege kurz: „Ich weiß nicht mehr genau. Ich bin früher gerne aufgestanden“, ich atme tief. „Ich habe viel gemacht an einem Tag, habe viel erlebt“. Aus meinem rechten Auge kullert eine Träne. Seit Wochen versuche ich zu weinen und schaffe es nicht. Ich beschließe, mehr zu erzählen: „Ich war lebensfroh, begeisterungsfähig, war bei jedem Scheiß dabei. Ich habe viel gelacht und Spaß mit meinem Freunden gehabt. Heute kann ich über keinen der Witze meiner Freunde lachen, obwohl ich es wirklich versuche. Ich bin nicht verletzt, wenn mich jemand kritisiert. Dabei konnte ich früher nicht mal Kritik ertragen. Ich habe dann immer ewig lang darüber nachgedacht, was ich hätte besser machen können. Heute juckt mich das nicht. Mir ist alles egal geworden“.

Mit dem letzten Satz nehme ich mir ein Taschentuch und schniefe laut rein. Die Therapeutin am anderen Ende der Leitung schweigt. Ich habe Angst, dass sie mich nicht ernst nimmt und fange an, meine Worte auszuführen: „Mit meiner letzten Klausur hat es angefangen! Ich habe so viel und so intensiv gelernt, habe mich acht Stunden am Tag mit der Uni beschäftigt. Ich habe mich so sehr auf die Freizeit danach gefreut. Und jetzt – nichts.“, die Tränen laufen mir übers Gesicht. „Ich habe keine Lust mehr, joggen zu gehen, bin nicht wirklich da, wenn ich mich mit Freunden treffe. Also ich bin schon da, aber nicht geistig. Ich-“. Ich schniefe und schnäuze in mein Taschentuch. „Es … Es ist als wäre ein Teil von mir nicht mehr da“, sage ich verzweifelt.

„Das waren harte Zeiten für dich, oder?“, meldet sich die Therapeutin zu Wort. „Online Uni ohne Ausgleich, ohne Kommilitonen, die gemeinsam mit dir lernen und leiden. Ohne physische Präsenz im Hörsaal - Weißt du, was ein Bärenfell ist, Emma?“. Sie wartet meine Antwort nicht ab. „Ein Bärenfell schützt dich vor schwierigen Situationen. Beispielsweise, wenn du einen Konflikt mit einer Freundin hast. Damit kannst du den Konflikt besser aushalten und aushandeln. Ohne dein Bärenfell trifft dich der Konflikt sofort und sehr stark. Weißt du, was ich meine?“. Ich nicke zustimmend, merke, dass sie das nicht sehen kann und erwidere leise Ja. „Ich vermute du hast dich zu lange auf der einen Seite bewegt, auf einer anstrengenden und belastenden Seite. Du hast es nicht ausgleichen können. Ich schlage dir vor, dass du dich jetzt deiner Gesundheit zuliebe mit anderen triffst. Habe so viel Kontakt wie möglich. Tue dir selbst etwas Gutes. Belohne dich für die harte und anstrengende Zeit und lass dein Bärenfell wieder wachsen! Bei unserem nächsten Treffen reden wir dann darüber, wie gut oder wenig gut das für dich funktioniert hat“. Eine angenehme und kribbelnde Welle durchfährt meinen Körper. Ich darf mich mit Menschen treffen. Nein, ich muss mich sogar mit anderen treffen, damit es mir gut gehen kann! Es triumphiert und jubelt in meinem Kopf.

Am Abend liege ich in meinem Bett und starre die Decke an. Ein Auto mit Blaulicht fährt vorbei. Ich blinzele und traue meinen Augen nicht. Für einen kurzen Augenblick habe ich geglaubt, einen Schatten von einem Bären an meiner Zimmerdecke gesehen zu haben. Er hatte dickes Fell und trug ein Cape.

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Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Studentin, 23 Jahre