Zwei Flügel zum Fliegen

Wettbewerbsbeitrag von Amilia Bell, 12 Jahre

Früher dachte ich, wenn man es nur lang genug versuchte, könnte man fliegen. 
Heute weiß ich, dass man, umso höher man fliegt, umso weiter man fallen kann. Und fallen tut weh.


Langsam löste ich mich aus meiner Starre, schaute noch einmal dem immer kleiner werdenden Zug nach. 
„Nicht traurig sein, Ella, wir sehen uns ja bald wieder“, hatte sie, Naomi, gesagt und mich dabei umarmt. Irgendwann würden wir uns wieder sehen, aber jetzt? Jetzt war ich allein. Alles um mich herum war grau, der Mülleimer, die Wände, die Uhr und wahrscheinlich auch ich selbst. So fühlte ich mich zumindest und ja, man kann sich grau fühlen. Es fühlt sich an, als ob das Grau in dir wäre, so wie die Kälte. Du siehst es nicht, aber spürst es, so wie jedes Gefühl. Du weißt nur nicht, ob es je wieder weggeht. 

Die vorbeigehenden Leute sahen mich nicht, bemerkten mich nicht, für die war ich Teil der grauen Welt. Mein größter Wunsch war, mit jemandem zu reden, aber die, mit der ich normalerweise reden würde, saß gerade in einem Zug, welcher sie kilometerweit wegbringen würde. Ich versuchte, die graue Kälte hinunterzuschlucken. Hier zu stehen, brachte mir auch nichts. Fröstelnd schlang ich meinen schwarzen Mantel enger um mich, ich musste in die Schule. Es war ein Montagmorgen und das Wetter war – wie sonst? – grau! Perfekt, na gut, also Schule.

Die Straßenbahn war quasi leer. Welcher Verrückte fuhr auch um fünf Uhr morgens mit ihr? Draußen war es stockfinster und es gab nichts außergewöhnliches zu sehen, also machte ich meine Kopfhörer an. Nur noch Ed Sheeran könnte diesen Morgen retten. Augenblicklich dachte ich wieder an Naomi, meine Schwester, die ebenso wie ich die Musik so sehr liebte. Mit ihr konnte ich die ganze Nacht lang reden, nicht nur über Musik, über die Schule, das Leben und was weiß ich. Toll gemacht, Ed Sheeran, super Ablenkung!

In der Schule waren außer mir nur wenige andere da, darunter Aleks. Er war seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine in unserer Klasse. Meistens saß er allein, er lehnte es ab, mit jemandem von uns zu reden. Vielleicht, weil er dann realisierte, dass er alles verloren hatte. Mich plagte das schlechte Gewissen, dass ich ihm nicht helfen konnte, aber wir selbst lebten in einer kleinen Wohnung. Meine Mutter arbeitete den ganzen Tag, wir hatten genug, um zu leben, aber viel mehr auch nicht. Aleks‘ traurige Augen starrten auf einen Punkt, er war in Gedanken versunken. Da wurde mir bewusst, dass ich mich gar nicht um mein eigenes Aussehen gekümmert hatte. In der Früh hatte ich mir einfach nur eine Jeans und meinen Lieblingshoodie geangelt. Meine hellbraunen Locken hatte ich zu einem Pferdeschwanz gebunden und meine grau-grünen Augen waren wahrscheinlich genauso traurig und müde wie Aleks‘. Ich schämte mich, das zu denken, denn seine Probleme waren viel schlimmer als meine. Die Stimme meiner Lehrerin riss mich aus meinen Gedanken, der Schulalltag begann.

Als ich die Wohnungstür öffnete, schoss mir Katze, unser schwarzer Kater, entgegen. Manche Menschen sagen, schwarze Katzen bringen Unglück, aber das ist bei Katze sicher nicht so. Katze ist nach Naomi sicher die Person, ähm das Lebewesen, mit dem ich am meisten rede. In unserer Wohnung war es eiskalt, wahrscheinlich sparte Mama Heizkosten. Fröstelnd drehte ich einen Heizkörper auf…. Dann knallte ich meine Sachen auf das Bett und checkte meine Nachrichten. Fünf neue von Naomi: „Bin gut angekommen :-)“ Schnell schloss ich den Messenger. Keine Ahnung, warum ich sie ignorierte, vielleicht war ich sauer, weil sie mich im Stich ließ? Unentschlossen öffnete ich Instagram, sofort leuchtete mir ein brandneuer Beitrag von Katrin entgegen. Die und ihr tolles Leben. Okay, weg damit! Ich schmiss mein Handy mit solcher Wucht auf das Kissen, dass es auf den Boden knallte. Katze spielte gleich sehr interessiert darauf herum. Naja, immerhin war einer glücklich. Frustriert setzte ich mich auf den Klavierhocker. Ziemlich durcheinander begann ich zu spielen und zu singen. Zuerst nur wirres Zeugs, aber nach einigen Minuten fiel mir etwas ein. Ich sang einfach, was ich fühlte. Über das Grau, über mein schlechtes Gewissen. Ich schrieb das Lied nur für mich selbst und es war sicher nicht so gut wie eines von Naomi – die jetzt sogar Musik studieren würde. Glaube ich zumindest. Trotzdem spielte ich weiter, meine Stimme passte sich der Melodie an: „… wie soll ich leben, wenn ich nicht mehr weiß, wie? Einfach so weitermachen funktioniert nicht mehr…“

Plötzlich schreckte ich auf. Ich musste am Hocker eingeschlafen sein! Mist, ich musste doch in die Schule! Unterm Zähneputzen schnappte ich mir mein Handy – wäre ich nicht gestanden, wäre ich aufgesprungen – ich hatte 46 neue Nachrichten, 25 verpasste Anrufe und 535 neue Instagram-Follower. Mir blieb die Luft weg, das musste ein Fehler sein! Nein, ich musste einfach noch träumen. Aber nein, so komische Träume hatte ich nie. 

Da rief meine Mutter aus der Küche: „Ella? Kommst du?“ Noch während ich in die Küche stürmte, fragte ich sie, warum sie noch nicht in der Arbeit sei. „Ich wollte dich unbedingt sehen. Schließlich wird meine Tochter nicht jeden Tag berühmt. Aber beim nächsten Mal bitte eine bessere Kameraeinstellung.“ Warte, was? Sie drückte mir ihr Handy in die Hand: Auf dem Bildschirm zu sehen war… Katze! Schön langsam dämmerte mir, was geschehen war.

In der Schule, alle Blicke waren auf mich gerichtet, überall hörte ich eine Stimme singen. Meine Stimme! Als ich gerade in den Musiksaal schlich, entdeckte mich unser Lehrer. „Ella!“, schrie er – so laut, dass alle, die bis jetzt noch nicht auf mich starrten, es spätestens jetzt taten – und winkte mich zu sich, „ich habe dein Video mit dem wunderbaren Song gesehen, willst du auf dem Ball für uns singen? Du bekommst auch eine Gage dafür.“ 

Und das war er, der Moment, der alles veränderte. 

Ich konnte Aleks nun mit meinem selbstverdienten Geld helfen! Die Wochen verflogen bis zum Ball, mein Leben war so rasant bergauf gegangen, dass ich nicht wusste, ob ich fröhlich oder traurig sein sollte. So oft es ging, telefonierte ich mit Naomi, welche begeistert war von meinem Video. Aber egal, wie viele Leute plötzlich mit mir zu tun haben wollten, ich blieb bei denen, die mich auch davor mochten. Alle freuten sich auf meinen Auftritt, so dass ich langsam Angst bekam, sie zu enttäuschen. Der Einzige, der von allem unbeeindruckt zu sein schien, war Katze, obwohl er an allem schuld war.

Und dann war es so weit: Mein großer Abend, auf den alle so gewartet hatten. In meinem neuen Kleid fühlte ich mich zwar wohl, aber ansonsten ging es mir miserabel. Als ich schlussendlich auf der Bühne stand und in all die erwartungsvollen Gesichter blickte, bekam ich Panik. Ich stand da und brachte keinen Ton aus meiner Kehle. Das Publikum wurde unruhig. Ich schloss die Augen und spürte, dass eine Hand auf meiner Schulter lag. Da stand sie, so als ob sie schon immer hier gestanden wäre, meine Schwester! Die Musik ging an und wir begannen zu singen. Zusammen. 

Und ich dachte nicht daran, was morgen sein würde, sondern nur an das Jetzt. 
Jetzt flieg‘ ich und es ist mir egal, ob ich danach falle.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.