Von Menschen und deren Leid

Wettbewerbsbeitrag von Jules, 15 Jahre

"Jetzt du."
Ich brauchte eine Weile um zu verstehen, aber wahrscheinlich sprach da nur der Alkohol aus mir. Wir hatten nicht viel getrunken. Taten wir nie. Allerdings hatte ich vorher kaum etwas gegessen, sodass mein Magen nichts zum Aufsaugen hatte. Das tat ich nämlich auch nie.
Ich blinzelte sie an. Sie hatte mir gerade ein Geständnis abgelegt, einfach so. Lag vielleicht auch am Alkohol. Zumindest erwartete sie nun auch eines von mir. Nur was sollte ich ihr sagen? Was bitte hatte ich schon zu beichten, wovon sie nicht schon längst wusste?
"Es tut mir irgendwie nicht leid. Hat es nie getan.“
Nun war sie an der Reihe nicht zu verstehen, wovon ich sprach.
"Die Sache mit deiner Schwester“, half ich ihr auf die Sprünge.

Das Ganze war schon Ewigkeiten her. Zwar solche, die sich anfühlten als wären es nur Tage gewesen, aber dennoch war es schon längst verjährt. "Ich meine, ist doch komisch, oder? Ich habe keine Ahnung davon, wie viele Menschen täglich qualvoll verrecken, aber es sind mit Sicherheit verdammt viele. Und jeder weiß das, jeder weiß, dass sie zu Tausenden ermordet werden, unschuldig, oder dass sie langsam vor sich hin kümmern, verhungern, und sie lassen eine Familie zurück, Freunde, Kinder, denen es nicht anders ergehen wird, und keinen schert es! Keinen, verdammt nochmal niemanden interessiert es, dass wir mit jeder Sekunde diesen Planeten mehr und mehr zerstören und ausbeuten, wir machen sogar alle mit. Wir gehen protestieren, nicht um der Zukunft Willen, sondern um Freitags nicht in die Schule zu müssen, auch wenn wir uns etwas anderes einreden. Wir lesen die Zeitung und sind bestürzt darüber, wie schlimm es auf der Welt zugeht, aber im gleichen Atemzug vergessen wir das Ganze, weil wir uns selbst so viel wichtiger sind. Dann ist uns das Wichtigste, wie wir aussehen und ob uns auch ja jeder mag, also bestellen wir uns im Internet billige, von Kindern produzierte Kleidung, um uns besser und schöner zu fühlen.“
An diesem Punkt war ich so angeekelt von mir und dem, was ich da sagte, dass es mir schwerfiel, meinen Ausbruch zu beenden. Und dennoch war mir auch bewusst, dass es wahr war, alles was ich sagte, meinte ich auch so, genauso und nicht anders. "Und dann stirbt deine Schwester. Und ich wünschte, es täte mir leid, aus vollem und ganzen Herzen leid, weißt du? Aber mir tun auch die ganzen anderen Menschen nicht leid, nicht wirklich. Wir sagen immer solche Dinge wie >>oh nein, das tut mir ja so Leid, wie schrecklich<<, aber in Wahrheit, ganz tief in uns drinnen tut uns selbst unser eingerissener Zehennagel mehr leid als alle diese ganze ungerechte Scheiße. Wir trauern nur um uns selbst, es tut uns nie um jemand anderen als um uns selbst leid. Nie so wirklich.“

Ich hatte ganz schön lange geredet, ganz schön viel und mir war in meiner Wut und meiner Verzweiflung nicht aufgefallen, wie ich immer lauter wurde. Im Gegensatz dazu war die jetzige Stille ein ganz schön krasser Kontrast.
Ich hatte keine Ahnung wie sie reagieren würde, außerdem hatte ich ihr wahrscheinlich Unrecht angetan. Ich meine, keiner konnte mich daran hindern, solche düsteren Gedanken zu führen, aber diese dann einfach so ohne jegliche Vorwarnung auf andere loszulassen… das war etwas anderes. Außerdem hatte ich sie auch nicht darauf vorbereitet, über den Tod ihrer Schwester zu reden.

"Weißt du, was das erste war, woran ich dachte, als ich es erfuhr?“ Ihre Stimme klang ruhig und sicher. Ich schien sie nicht verletzt zu haben mit meinen plötzlichen Hassreden über die gesamte Menschheit. "Ich meine, ich hätte schreien müssen, weinen, an all die ganzen Jahre mit ihr denken… “ nun geriet sie ins Stocken. Es fiel ihr offensichtlich schwer, darüber zu reden, dennoch erzählte sie weiter. "Das erste was mir einkam, war nicht, zu weinen. Es war der Hoodie. Sie hatte diesen Hoodie von meinem Vater, weil er ihm zu klein war, weißt du? Sie hütete das Ding wie einen Schatz, ließ mich ihn nie ausleihen. Ich war so neidisch. Und dann war sie tot. Weg. Für immer… und mein erster Gedanke war - hey, jetzt kann ich doch endlich mal diesen Hoodie haben-.“

Ihre Blicke suchten die umliegenden Dosen ab, hofften dass eine vielleicht noch einen Schluck barg. Hoffnungslos natürlich. Das Bisschen, das wir hatten, war schon längst von uns geleert worden. Sie seufzte und sah mich mit ihren großen, grauen Augen an. Normalerweise steckte so viel Traurigkeit darin, dass ich oft glaubte, ihre Augen müssten das traurigste Paar Augen sein, das es überhaupt gab. Und vielleicht stimmte das ja sogar. Aber jetzt waren ihre Augen einfach nur leer. Grau und leer. Wenn man immerzu nur deprimiert ist, hat man irgendwann genug davon. Das gibt einem aber auch keinen Grund, fröhlich zu sein. Dann ist es einem einfach alles egal. Es ist doch egal, dass diese Welt dem Untergang geweiht ist, allen anderen scheint es doch auch egal zu sein.

"Warum sind wir Menschen eigentlich so? Ist das unser Überlebensinstinkt?“
Ich konnte ihr keine Antwort liefern, die sie hätte aufmuntern können, also war ich einfach ehrlich. "Ich glaube wir Menschen waren ein Unfall. So weit hätte es nie kommen sollen. Oder aber wir sind von Anfang an das prophezeite Ende der Welt, und es ist nunmal unsere Bestimmung, alles in den Ruin zu stürzen.“
"Ich will das aber nicht. Ich will daran gar nicht schuld sein.“ 
Darüber musste ich nachdenken. Natürlich wollte ich das auch nicht. Aber war ich bereit, etwas dagegen zu tun? "Weißt du was? Dann akzeptier es doch nicht einfach“, ich stand auf, aus einem plötzlichen Enthusiasmus heraus, der mich die Welt verändern wollen ließ. Natürlich war das bekloppt, denn wie um Himmels Willen wollten gerade wir zwei die Welt revolutionieren? Aber noch viel bekloppter war es, ein Leben lang deprimiert vor sich hin zu gammeln und das Gegenteil zu bewirken. Wir würden etwas ändern. Nein, wir mussten sogar.
"Wir gegen den Rest der Welt?“, ich hielt ihr auffordernd meine Hand vor die Nase.
Erst schnaubte sie verächtlich, wahrscheinlich, weil ich gerade so geklungen haben muss, wie aus so einem klischeehaften Film, an dem am Ende dann auf einmal das große Happy End angekündigt wird und das Publikum anfängt zu heulen. Dann aber reichte sie mir ihre, in dem Hoodie, der noch immer so nach ihrer Schwester roch, vergrabene Hand und ließ sich von mir auf die Beine ziehen. Es war eiskalt, aber von ihr schien eine plötzliche Wärme aus zu gehen. Und diesmal lag es nicht am Alkohol.
"Wir, aber am besten mit dem Rest der Welt!“

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.