Kirschschnaps

Wettbewerbsbeitrag von Letje Malle, 25 Jahre

Gerd sitzt allein an seinem Küchentisch über einem Brot mit Scheibenkäse. Die Hängelampe über dem Tisch hängt nur an einem dünnen Kabel und hüllt ihn in kaltes Licht. Das alte Radio spielt leise vom Fensterbrett. Es steht neben einem Bild von seiner Ella. Diesen Frühling war sie ihm vom Krebs genommen worden. Eine hässliche Krankheit, die seine Jugendliebe langsam und schleichend verzehrt hatte, bis sie nur noch ein Abbild ihres Selbst war. Nur das Lachen war bis zum Schluss geblieben.

Bis heute hat sich die Erinnerung an ihre letzten Momente fest bei Gerd eingebrannt. Irgendwann war Ella so schwach gewesen, dass sie im Krankenhaus liegen musste. Gerd hatte sie jeden Nachmittag besucht, immer dabei eine Handvoll Blumen, die er im gemeinsamen Garten gepflückt hatte. Bis zum Schluss hatte er ihre Hand immer wieder gedrückt und sie hatte zurückgedrückt. Auch als sie ihre Augen schon gar nicht mehr aufmachen konnte. Und dann - an einem Tag im Februar - hatte sie es nicht mehr getan. Gerd hatte gedrückt und gewartet - und wieder gedrückt. Und irgendwann war der Arzt gekommen. Seine Augen waren ganz traurig gewesen und seine Schultern hingen tief. „Gerd. Die Ella ist nicht mehr.“

Die Tage und Wochen danach war viel passiert. Zur Beerdigung reisten die Familie und Freunde an, die es noch gab. Es waren nicht viele. In einer wunderschönen Zeremonie im Friedwald war Ella zwischen ihren Lieblingsblumen beigesetzt worden - und mit ihr eine Flasche Kirschlikör. Immer, wenn die Lage schlimm schien, hatte sie auf ihren selbst gemachten Kirschlikör geschworen.

„Ein Glas hiervon, mein Lieber, und die ganze Welt schaut rosig aus.“

Nach der Beerdigung war es still geworden. Und einsam. Gerd und Ella hatten sich nach Eintritt ihrer Rente ihren Lebenstraum erfüllt und waren in ein kleines Landhaus gezogen. Mit einem großen Garten voller Wildblumen und Kirschbäume. Weit weg von Verwandten und von den Beiden war auch immer Ella diejenige gewesen, die Freundschaften gepflegt hatte. Alle hatten Ella geliebt.

Gerd seufzt tief und schiebt sein Käsebrot beiseite. Es schmeckte viel besser als Ella das noch für ihn gemacht hatte. Der grüne Flyer, den er heute Morgen in seinem Briefkasten gefunden hat, liegt neben seinem Teller.

Trauerspaziergang
Jeden 3. Dienstag 11:00-12:00

Es ist nicht das erste Mal, dass diese Werbung bei Gerd landet. Nachdem Ella gestorben war, hatte der Arzt ihm von diesen Veranstaltungen erzählt und später auch der Bestatter. Gerd hatte sich geweigert. Er wollte nicht mit einer Gruppe von Fremden spazieren gehen, die seine Ella nicht kannten und gar noch vor ihnen weinen. Er hat nicht geweint. Auf jeden Fall kann er sich an keine Tränen erinnern. Oder er hat es vergessen. Schmerz bespricht man nicht. Man erträgt ihn. So war das immer in seiner Familie. Nur mit Ella konnte er immer darüber reden. Aber das geht nicht mehr.

Gerd geht zum Mülleimer, den Zettel schon geknüllt, und hält inne. Und dann wirft er ihn doch weg und geht ins Bett. Dieser Tag wird ihm nichts mehr bringen.

Als Ella gestorben war, fühlte Gerd sich alleine. Sie war immer die erste gewesen, die aufgestanden war und Kaffee gemacht hatte. Jetzt liegt er morgens alleine im Bett auf seiner Seite, die Augen auf die Decke gerichtet. Wozu noch aufstehen? Und er tut es trotzdem, hievt sich aus seinem Bett, schlüpft in die gefilzten Pantoffeln und holt die Tageszeitung rein. Er isst ein Brot zum Frühstück.

Heute zieht er sich an, um in den Garten zu gehen. Es ist Spätsommer und die Wildblumen blühen in allen Farben. Es ist ein großes Meer an bunten Farbtupfern - doch Gerd kann das Schöne nicht sehen. Er kann nur an Ella denken, wie sie mit Erde bedeckt ellbogentief in den Beeten wühlt und Unkraut zupft - und dabei schimpft wie ein Rohrspatz. Und dann muss er doch kurz lächeln. Aber so schnell wie die schöne Erinnerung aufgetaucht ist, wird sie verdrängt von den dunklen Gewitterwolken in seinem Kopf. Er kann nur daran denken, dass sie nicht da ist, um sich zu beschweren.

Wenn er sie noch einmal hören könnte, würde er ihr dieses Mal nicht sagen, dass sie weniger fluchen sollte. Er würde sich über jedes Schimpfwort freuen und mit ihr schimpfen, bis die Nachbarn über die Hecke schauen.

Es wird Abend und Gerd sitzt wieder über einem Käsebrot zum Abendessen und schaut das Bild von seiner Ella an. Das Radio spielt ein Lied, das er nicht kennt. Er kennt immer weniger Lieder. Auf dem Weg zum Bett kommt er am Mülleimer vorbei und sieht den Flyer vom Trauerspaziergang oben aufliegen.

Als Gerd am nächsten Morgen aufwacht, fühlt sich der Tag anders an. Nicht besser oder schlechter. Aber anders. Ein Blick auf die Uhr.

10:00 Uhr.

Und plötzlich ist Gerd ganz wach. Er beeilt sich mit dem Anziehen und isst schnell ein Brot. Die Einladung zum Trauerspaziergang liegt auf der Küchentheke neben einem Beutel mit seinem Portemonnaie. In dem Beutel ist auch etwas, das ihn an Ella erinnert. Auf der Einladung stand, dass man etwas mitbringen sollte. Gerd zieht seine Jacke an und fährt mit dem Fahrrad zum Treffpunkt im Stadtpark. Als er absteigt und einen anderen Mann sieht, der wartet, kommen ihm Zweifel. War das die richtige Entscheidung?

Der Mann kommt herüber und streckt seine Hand aus. Er ist groß und breit. Wie ein Fels. Mit einer sonoren Stimme sagt er: „Ich bin Thomas. Machst du heute den Spaziergang mit?“ Gerd nimmt seine Hand und nickt. Er weiß nicht, was er sagen soll. Es ist 11:00 Uhr und sie sind nur zu zweit.

„Sollen wir?“, fragt Thomas. „Heute sind wir alleine, aber das macht nichts.“

Gerd läuft neben ihm und Stille breitet sich aus. „Wie geht das jetzt?“ Er umklammert seine Tasche. Thomas zuckt mit den Schultern. „Wir spazieren. Und wenn du was erzählen willst, dann höre ich zu. Wenn du schweigen willst, ist das kein Problem.“

Gerd nickt nochmal. Zwanzig Minuten laufen sie Seite an Seite, bis sie bei einer Bank ankommen. Thomas hält an. „Willst du kurz sitzen?“

Gerd setzt sich hin, seine Tasche auf seinem Schoß. Nach ein paar weiteren Minuten Ruhe räuspert er sich. „W-Was. Ich meine, wieso machen Sie die Spaziergänge?“

Thomas schweigt kurz und schaut dann auf den kleinen See im Stadtpark. Enten treiben zwischen Seerosen. „Vor ein paar Jahren ist meine Tochter gestorben. Es war ein Fahrradunfall. Sie ist im toten Winkel von einem Auto gefahren und dann ist es abgebogen.“

Gerd fühlt sein Herz in seine Hose rutschen als er zuhört. Thomas räuspert sich und atmet tief ein. „Meine Frau und ich wussten nicht, wie wir damit umgehen sollen. Ich schätze, irgendwann habe ich vom Trauerspaziergang gehört und hab mitgemacht. Und es hat geholfen. Ich hab’ mich dann ausbilden lassen. Und jetzt mache ich es weiter.“

Gerd macht eine kurze Pause und nickt dann. „Ella. So hieß meine Frau. Sie ist im Frühjahr gestorben.“

Thomas lächelt ein bisschen und dreht sich zu ihm „Magst du mir von ihr erzählen?“

Gerd zögert kurz, öffnet dann aber seinen Beutel. Er hat zwei Gläser mitgebracht und eine Flasche von Ellas Kirschschnaps. „Lass uns reden.“

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.