Der Weg

Wettbewerbsbeitrag von Lukas, 20 Jahre

Ich saß ohne jede Hoffnung am Rand der Straße und die Trauer lief in meinem Inneren über, floss aus mir heraus und dennoch versiegte der Strom in meinem Inneren nicht. Sie war der Grund dafür, dass ich aufgegeben, mich an den Rand der Straße gesetzt hatte und den Weg nicht mehr fortsetzte. So wie mein Mut sank, sank auch mein Haupt auf meine Arme, die auf meinen angezogenen Knien ruhten.
Ich wäre wohl für immer so sitzen geblieben, hätte mich nicht urplötzlich die helle Stimme angesprochen und mich gefragt: «Warum sitzt du hier am Rand des Weges?»
Mit einer enormen Willensanstrengung gelang es mir, den Kopf anzuheben und den Sprecher anzusehen.
Vor mir stand ein uraltes Kind, das mich aus freundlichen, klaren Augen ansah.
Ich schluckte hart und sagte dann stockend: «Warum sollte ich denn weitergehen? Die Welt ist trostlos, grau und ohne jede Hoffnung. Warum sollte ich mich da nicht an den Rand des Weges setzen?»
Das uralte Kind sah mir einen langen Moment intensiv in die Augen. Dann erhellte ein leichtes Lächeln sein Gesicht, das an mein Herz rührte.
«Aber das stimmt doch gar nicht», sagte es, «Die Welt ist voll von kleinen Dingen, für die es sich zu leben lohnt. Suche nach diesen Dingen, denn sie verleihen der Welt ihre Farben. In ihnen findest du Hoffnung und Lebensfreude und wenn du sie erst einmal gefunden hast, wirst du die Welt mit anderen Augen betrachten.»
Ich schaute mich um. Aber ich sah nur eine graue Einöde, Rauch, der in der Ferne aufstieg, und Trümmer, die das Leid derer bezeugten, die vor uns gelitten hatten.
«Nein.», antwortete ich, «Du irrst dich. Auf dem Weg erwarten uns Tod, Trauer und Unglück und am Ende des Weges erwarten uns ebenfalls der Tod, Trauer und Unglück. Weshalb sollte es sich da lohnen den Weg zu Ende zu gehen. Ich bleibe lieber hier und erspare mir all das.»

Es tat mir leid, dass ich seine heile Welt zerstörte, aber irgendjemand musste es ihm sagen.
Das Lächeln schwand dann auch tatsächlich aus dem Gesicht des Kindes und das machte mich traurig. So traurig, dass ich meine eigentliche Trauer über mich selbst beinahe vergessen hätte.
«Ich fürchte da liegt ein Irrtum vor», sagte das uralte Kind, «Du glaubst, dass du diesen Weg vom Anfang bis zum Ende gehst und wenn du das Ende erreichst, hast du somit auch den Tod, also das Ende des Weges und das Ende deines Lebens erreicht?»
«Ja», antwortete ich und bei dieser Antwort stieg in mir die Trauer über mich selbst wieder an und ich wollte schon den Kopf sinken lassen, als das uralte Kind leise lachte und mich so davon abhielt.
«Das ist falsch», antwortete das uralte Kind, während sich das Lächeln erneut auf seinem Gesicht ausbreitete, «Gorch Fock hat einmal gesagt "Wir sterben alle am Wege: Wer von erreichten Zielen spricht, ist ein Narr", und er hatte damit recht. Das Ende des Weges kann man genau so wenig erreichen, wie wir am Anfang des Weges gestartet sind. Wir beginnen unsere Reise auf dem Weg und beenden sie auf ihm, doch vor und hinter uns erstreckt sich der Weg in die Unendlichkeit. Es geht nicht darum, das Ende des Weges zu erreichen, weil man das Ende des Weges nicht erreichen kann.»

«Worum geht es dann?», fragte ich, den Redeschwall des uralten Kindes unterbrechend.
«Unser Leben ist eine Schnur und auf dieser Schnur sind all die schönen Erinnerungen unseres Lebens wie Perlen aufgezogen. Rein, hell und strahlend, so dass sie unser Herz berühren und erquicken können. Und wenn man dann das Ende des eigenen Lebensweges erreicht hat, so hat man ein wertvolles Collier und bevor die Augen blicklos werden und das Herz seinen letzten Schlag getan hat, lassen wir das Collier ein letztes Mal durch unsere Finger gleiten, sehen zum letzten Mal durch die Perlen, wie durch kleine Fenster in unsere Vergangenheit und durchleben ein letztes Mal die schönsten Momente unseres Lebens. Du hast Recht. Es gibt in dieser Welt Trauer, Tod, Unglück, Leid und Qual, aber es gibt auch so vieles, für das sich das Leben lohnt, denn egal wie grau die Zeiten und egal wie hoffnungslos die Situation ist, so gibt es immer die Hoffnung auf bessere Zeiten, und da kommen wir alle ins Spiel. Wir entscheiden, ob es eine Hoffnung bleiben soll oder ob wir sie in eine Realität verwandeln. Wir sind dafür verantwortlich, was geschieht. Wir haben die Macht unsere Leben zu verändern. Der Weg ist vorgegeben, doch welche Blumen wir am Wegesrand pflücken, welche Steine wir verrücken und welche Bäume wir pflanzen, ist uns freigestellt und auch wie wir mit all den anderen Wanderern auf dem Weg umgehen ist uns nicht vorgeschrieben. So beeinflussen wir mit jeder Entscheidung, die wir treffen, mit jeder Handlung, die wir ausführen und mit jedem Schritt, den wir auf dem Weg tun über die Zukunft und damit über unsere Leben.»

Das musste ich erst einmal verdauen.
«Du hast gesagt, dass es Dinge gibt, für die sich das Leben lohnt.», sagte ich nach einigen Minuten des stillen Nachdenkens, «Mir fallen aber keine mehr ein. Ich fürchte ich habe nur eine Schnur und keine Perlen darauf. Wie soll ich denn Hoffnung haben, wenn ich keine Vorstellung von dem habe, für das sich das Leben lohnt?»
Das uralte Kind sah mir mit ernster Miene tief in die Augen.
«Du hast deine Lebensperlen verloren», sagte es dann traurig, aber gleich darauf hellte sich seine Miene wieder auf, «Aber zum Glück weiß ich ganz in der Nähe einen Platz, wo du etwas finden wirst, das für dich zu einer Perle werden und dir so deine Hoffnung zurückgeben kann. Los steh auf und komm mit.»
Aufgekratzt hüpfte das uralte Kind um mich herum und zupfte an meiner Kleidung. Mühsam rappelte ich mich auf und ließ mich von ihm mitziehen.
Das Kind führte mich und ich folgte ihm. Wir wanderten einige Minuten lang, aber ich sah nichts von der Landschaft, denn mein Kopf war gesenkt und ich sah nur den Weg.
Dann blieben wir stehen.

«Heb deinen Kopf und sehe», sagte das Kind plötzlich.
Ich schaute auf und sah eine graue Landschaft unter einem grauen Himmel. Dann begann sich langsam ein Schleier vor meinen Augen aufzulösen. Ich sah erst nur einige farbige Punkte, dann sehr viel Grün. Die Welt wurde farbiger, heller. Vogelgezwitscher ertönte, Bienen summten. Und dann sah ich die ganze Schönheit dieser farbenprächtigen Blumenwiese, die sich wie ein farbiges Meer vor mir ausbreitete und mich sprachlos staunen liess.
Ich sog diese Schönheit in mich auf und als ich übervoll und tief berührt von dieser Schönheit war, blieb eine funkelnde makellose Perle zurück, die ich vorsichtig auf die Schnur meines Lebens aufzog.
Ich drehte mich zu dem uralten Kind um, um mich bei ihm zu bedanken. Dafür, dass es mir zugehört, mit mir geredet, sich in mich eingefühlt und mir am Ende Hoffnung und Lebensfreude geschenkt hatte. Doch als ich mich umdrehte, war das uralte Kind verschwunden.
Ich drehte mich in alle Richtungen, aber ich konnte es nirgends entdecken.
Und so ging ich weiter hoffnungsvoll den Weg entlang, und die Freude lief in meinem Innern über, floss aus mir heraus und dennoch versiegte der Strom in meinem Inneren nicht.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.