Die Treffen

Wettbewerbsbeitrag von Sarah Prignitz, 17 Jahre

Das erste Mal war besonders schwer. Ich hielt es keine fünf Minuten aus. Meine Tränen unterdrückend, versuchte ich unauffällig dem Raum zu verlassen. Jeder sah mich an, das machte es noch schwerer. Doch ich konnte dort nicht still sitzen bleiben. Es ging einfach nicht. Ich wollte nach Hause. Zurück in mein Bett.
Den ganzen Weg nach Hause weinte ich. Zu Hause ging es weiter. Nichts konnte mich trösten und ich schwor mir nie wieder dorthin zu gehen. Ich wollte mich dem widersetzen, was mir alle versuchten zu sagen. Ich war mir sicher, es würde niemals helfen.
Doch ich ging wieder hin. Widerwillig. Aber dieses Mal lief es besser. Die Gruppe hieß mich erneut willkommen, als wäre das letzte Mal nichts passiert, als wäre ich gar nicht dort gewesen. Ich dankte ihnen, in Gedanken. Ein wenig mehr verdrängte ich mein Unwohlsein und entkrampfte mich. Nicht vollständig.
Zuerst ließ ich sie sprechen. Jeder erzählte. Sie hatten alle traumatisierendes erlebt. Auch ich gehörte dazu. Sonst wäre ich nicht hier. Doch sie lebten bereits seit vielen Jahren damit. Es schien, als hätten sie sich daran gewöhnt. Der Gedanke ließ mich erschaudern. Auch ich würde irgendwann in Frieden damit leben müssen.
Ich wollte es nicht. Ich wollte nicht vergessen. Niemals.
Dann war ich an der Reihe. Unsicher versuchte ich in Worte zu fassen, warum ich heute hier war. Es waren unschlüssige zusammenhangslose Sätze. Ich selbst verstand sie nicht. Die andern taten es. Sie verstanden mich. Es gab mir Kraft, aber Tränen konnte diese Kraft nicht zurückhalten. Niemand kam, um mich zu trösten. Es wurde still.
Ich hatte selber Taschentücher dabei. Natürlich hatte ich gewusst, dass es passieren würde. Sie sahen mich weiter an. Die Stille leerte sich.
Ich weinte noch mehr, doch nun vor Freude. Es war so schön. Umgeben von denen, die einen nicht kannten, aber wusste, was in einem vorging. So glücklich war ich lange nicht mehr. Es schien surreal. Doch auch dieses Mal ging ich früher.
Zum nächsten Treffen ging ich nicht. Ich konnte nicht. Es störte niemanden.
Dann ging ich erneut hin. Ich sah dieselben Gesichter. Plus eins. Jemand war neu, so wie ich neu gewesen war. Ein Mann, etwas älter als ich, schaffte es kaum den anderen zuzuhören. Jedoch hielt er es länger aus, als ich beim ersten Mal. Er begann sogar selbst zu erzählen. Es fühlte sich sehr falsch an. Er quälte sich, das sah man ihm an. Doch er merkte es selber nicht. Die traurige Wahrheit eines Leidenden.
Die inneren Schmerzen vernebeln den Verstand. Komplett.
Nach ihm erzählte ich erneut und ich erzählte mehr. Die Einzelheiten, die ich das letzte Mal weggelassen hatte erschienen, doch ich erzählte noch nicht alles. Dieses Mal ergaben meine Sätze ein wenig Sinn. Es waren mehr. Ich sprach sie überzeugend. Ich glaubte mir selber. Ein Fortschritt.
Immer wieder wiederholte ich die Sätze. Ich addierte weitere dazu. Ich wurde selbstbewusster in meinem Sprechen und ich kannte die Geschichten der anderen. Sie waren nun auch meine.
Ab und zu überlegte ich nicht zu den Treffen zu gehen. An diesen Tagen ging es mir besonders schlecht. Doch ich ging immer hin. Ich fühlte eine innerliche Verpflichtung ihnen gegenüber. Nicht nur ihnen, auch denen, die sie verloren hatten.
Auch ich habe jemanden verloren. Vor nicht allzu langer Zeit. Ich werde nicht vergessen. Niemals. Ich werde verstehen und ich werde akzeptieren. Den Tod als den letzten Teil des menschlichen Lebens. Ich werde vermissen und ich werde warten bis zu meinem Tod. Doch all dies tue ich mit dieser Gruppe, die meinen Schmerz teilt. Durch unseren Verlust haben wir einander gefunden. Ein schwacher Ausgleich und doch ein starker Trost.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Sarah Prignitz, 17 Jahre