Rettung aus dem Lügenmeer

Wettbewerbsbeitrag von Fabienne S., 21 Jahre

Und wieder einmal hatte mich das Leben kalt an der Schulter erwischt.
So schnell, dass es mich niederriss und egal, wie sehr ich auch dagegen ankämpfte, ich konnte dem nicht Stand halten.
Ich konnte den emotionalen Angriff meines Selbst nicht abwehren und war ihm völlig ausgeliefert.
Es war als wäre ich machtlos, und das machte mich hilflos.
Auf einmal war mir alles wieder zu viel und ich verlor mein eigentliches Ziel.
Kaum hatte ich meine Augen auf das Ziel gerichtet, war es mir schon wieder entglitten.
Komisch. Überraschend. Schnell.

Wir sind alle überhäuft von Krisen.
Die eine holt die andere ein.
Es ist ein reinster Haufen Chaos aus Scherben.
Wir, mitten drinnen.
Du versinkst, ohne es zu bemerken.
Dein Kopf brummt vor Schmerzen.
Der Lärm um dich herum verstummt nicht.
Du willst diese Stimme nicht mehr hören.
Du kannst sie nicht mehr hören.
Aber was du auch nicht kannst, ist sie auszuschalten.

Stille.
Das ist es, was du willst.
Alles andere, Hauptsache nicht mehr diese Stimmen, die dir einreden, wer du nicht bist.
Du denkst, du kannst es nicht, aber du kannst es, sie ausschalten.
Diese Stimmen, die dir sagen wollen, wer du bist.
Du kannst sie ausschalten.
Sie reden dir ein, du bist es nicht wert, du bist zu dumm dafür, du bist eine Katastrophe, du bist nicht in, du bist zu schwach, du bist zu unfähig, du bist nicht hübsch genug.
Was soll das überhaupt heißen, nicht hübsch genug?
Wie können sie dich beurteilen, bevor sie mehr als deinen Namen und dein äußeres Erscheinungsbild kennen?
Haben sie dir je eine Chance gegeben, dich kennenzulernen und mehr Worte, als nur "Hallo" und "Tschüss", mit dir zu wechseln?
Sollten wir Menschen andere beurteilen oder verurteilen?

Vielleicht hast du es schonmal erlebt, wie andere dir eingeredet haben, dass sie Recht haben und die Kontrolle übernahmen, über dein Denken, dein Handeln, dein Selbstbild, deine Entscheidungen und dein Leben.
Du saßt am Steuer deines Schiffes und musstest nur lenken und plötzlich hast du angefangen diesen Stimmen zu glauben.
Du gabst diesen Geräuschen um dich herum mehr Aufmerksamkeit als dem eigentlichen Ziel deiner Fahrt.
Und plötzlich hieltest du das Steuer nicht mehr mit derselben Überzeugung und Aufmerksamkeit in deinen Händen, wie du es einst getan hattest.
Dein Griff wurde lockerer, dein Fokus immer weniger und du verlorst mehr und mehr die Kontrolle.
Und plötzlich wusstest du nicht mehr, wo du warst.
Du warst irgendwo im weiten Meer, ohne zu wissen, wo du herkamst oder wo du hinmusst.
Du warst machtlos und das machte dich hilflos.
Alles, was du wusstest und was dich umgab war Social Media, Idealtypen, Models, Hass, Gewalt, Ungerechtigkeiten, Macht, Eifersucht, Neid und vieles andere.
Ein Meer voller Dinge, die die heutige Zeit prägen und beeinflussen.
Ein Meer voller Dinge, die leicht zum Ertrinken führen können.

Wir greifen oft direkt nach dem Aufwachen nach unserem Handy und überfliegen Beitrag für Beitrag.
Unsere Köpfe werden gefüllt von Dingen, die uns nicht guttun und uns selbst vergessen lassen.
Sie fressen unsere Gedanken auf und lassen keinen Raum für andere.
Depression oder auch erste Anzeichen davon können schnell die Folge von alle dem sein.
Zusammenbrüche, Selbstzweifel, Misstrauen, all das sind Auswirkungen von dieser Pille des Ideals.
Sie ist tödlicher als wir zu denken mögen.
Jeder reagiert anders auf sie und verwendet sie unterschiedlich, aber beeinflussen tun sie uns alle, auf ihre ganz unterschiedliche Art und Weise.
Bei den einen ist es die Depression, bei den anderen eine Essstörung, bei anderen der Alkoholismus, bei wieder anderen Spielsucht und die ganze lange Liste lang weiter.
Bei mir war es die Essstörung.

Ich verlor mich im Meer des Idealtyps, des Perfektionismus und der Suche nach der Fülle meiner Leere.
Ich sprang ins Meer und ließ das Steuer los und war dem Ertrinken nahe.
All das, was mir so geschmeichelt hatte und mir eine Lösung versprach, verursachte nur ein noch größeres Loch in mir.
Und während ich mich versuchte über Wasser zu halten und nicht zu ertrinken, suchte ich mein Schiff, aber ich konnte es nirgendwo mehr entdecken.
Entweder wurde es vom Wind weggetrieben oder es hatte sich in Luft aufgelöst.
Immer mehr Wasser füllte meine Lunge.
Ich konnte schwimmen, das war nicht das Problem.
Die hohen, mächtigen Wellen waren es.
Sie schienen meine größte Rettung, dabei waren sie mein größter Feind.
Und plötzlich sah ich eine gewaltige Welle auf mich zu kommen und zählte die Minuten oder Sekunden bis sie mich ergreifen und hinunterdrücken würden, mit einer Kraft, der ich nicht standhalten könnte.
Aber genau in dem Moment, als mich die Welle packte, ergriff mich eine Hand an meinem Arm und zog mich aus dieser Gewalt des Meeres.
Ich musste für einen Moment ohnmächtig geworden sein, weil ich kurz danach erwachte und mich in Sicherheit befand, zumindest hoffte, glaubte und spürte ich es.
Ich wusste, dass dieser Ort etwas Besonderes sein musste.
Mit der Zeit kam ich wieder mehr und mehr zu mir und erkannte, dass es ein gewaltiges Schiff war, auf dem ich mich befand.
Ich spürte, dass dieses Schiff ein friedlicher und geborgener Ort sein musste.
Und während ich nicht aus dem Staunen herauskam, sah ich ihn, meinen Retter, der das Steuer fest in den Händen hielt.
Und da wusste ich, ich bin angekommen, ich bin frei.

Alle Infos zum Wettbewerb

Die Verwandelbar Sieger:innenehrung

Herzlichen Glückwunsch an die Preisträger:innen!

Teilnahmebedingungen und Datenschutzerklärung

Bitte lesen!

Die Verwandelbar-Jury

Die Jury verwandelt eure Einreichungen zum Schreibwettbewerb in wohlwollende Urteile :-)

Preise

Das gibt es im Schreibwettbewerb "Verwandelbar" zu gewinnen

Einsendungen

Die Beiträge zum Schreibwettbewerb Verwandelbar

Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.