Der Krieg im Kopf

Wettbewerbsbeitrag von Pascal Oßadnik, 23 Jahre

Eine ruhige, sternenklare Nacht wird ohne Vorwarnung durch den alles um sich herum pulverisierenden Einschlag einer Mörsergranate zerrissen. Der die Luft zerschneidende Knall reißt Erik auf grausamste Art und Weise aus dem Schlaf. Einen Moment lang folgt auf die Explosion nur Stille und Erik war sich sicher, man könne eine Stecknadel fallen hören. Doch dann, beinahe so, als sei mit der Detonation des fremden Sprengkopfes eine Art Startschuss gefallen, geraten die Dinge um Erik herum in Bewegung. Befehle werden geschrien, weitere Explosionen sind zu hören und die ersten Schüsse hallen durch die Nacht. In einer ruhigen Nacht bildete sich mit einem Mal ein Mahlstrom der Gewalt, der droht alles zu vernichten, was sich nicht vor den Schrecken des Krieges retten kann. Und Erik steht mittendrin. Er braucht einen Moment, um die Schlaftrunkenheit von sich abzuschütteln und zu verstehen, was gerade um ihn herum passiert. Wieder Herr seiner Sinne fischt Erik in der Dunkelheit nach Kampfhelm, Schutzweste und seinem Gewehr. Mit geschickten Handgriffen werden Helm und Weste angelegt. Das Gewehr umfasst Erik fest und macht sich bereit, um den Dingen entgegenzutreten, die ihm dieser Nacht noch nach dem Leben trachten werden.
„Hauptgefreiter, sieh zu! Der Feind ist da!“, schrie ihm der Unteroffizier entgegen, der ihn zur Eile antrieb und dann wieder in der Dunkelheit verschwand.
Bevor er seinen Schlafplatz verließ, atmete er noch einmal tief durch und tauchte hinein in Nacht. Im Laufschritt macht sich Erik auf in Richtung des immer lauter werdenden Gefechtslärms. Leuchtmittel steigen den Himmel empor und tauchen die Welt um Erik herum in einen Kontrast aus Schwarz und Orange. Mit schnellen Schritten bewegt er sich um die Hindernisse auf dem erleuchteten Sandboden, macht sich klein und gleitet in die Stellung zu seinen Kameraden.
„Feindliche Schützen! Circa 150 bei den Hügeln!“, ruft der Gruppenführer durch die Stellungen. Bellend schallen die Bestätigungen aus den anderen Stellungen links und rechts von Eriks Gruppe wieder und ein Feuergefecht entbrennt, was sogar Hollywoodproduktionen in den Schatten stellt. Der Mahlstrom der Gewalt breitet sich unaufhörlich weiter aus und Erik droht von der Intensität zerrissen zu werden. Explosionen, Schüsse und Schreie vermengen sich zu einer grausigen Melodie der Zerstörung, die in ihrem eigenen Takt auf dem Gefechtsfeld widerhallt. Das Letzte, was Erik hört, ist das hohe Zischen der feindlichen Kugel, die hinter ihm in den Erdwall einschlägt, gepaart mit einem heißen Gefühl in der Schulter. Dann verliert er das Bewusstsein und die Welt um Ihn herum wird schwarz.
Mit einem Schrei wacht Erik schweißgebadet aus seinem Albtraum auf. Die rechte Hand fest in die linke Schulter gekrallt. Ein immer wiederkehrender Albtraum, der ihn zwingt, sich dem schlimmsten Tag in seinem Leben wieder und wieder zu stellen. Das Mondlicht scheint durch das gardinenlose Fenster in das Schlafzimmer hinein und erleuchtet den Raum mit seinem fahlen silbrigen Licht. Es dauert einen Moment, bis Erik erkennt, wo genau er gerade ist und die beleuchteten Möbel und Gegenstände in seinem Schlafzimmer einordnen kann. Er atmet einige Male tief durch. Die eben noch wie an der Schulter festgeklebte Hand löste sich und hängt nun lose am Arm herab. Klitschnass stand Erik aus seinem Bett auf, schaltete das Licht an und schälte sich aus dem nasskalten, am Körper festklebenden T-Shirt. Mit großem Unmut musste Erik auch noch feststellen, dass er während seiner träumerischen Tortur einmal seine ganze Silhouette in das Bettlaken und die Matratze geschwitzt hatte. Da er sich nicht wieder in das nasse Bett legen wollte, beschloss er, das Bett fürs Erste trocknen zu lassen und nahm sich seine zerknitterte Schachtel Zigaretten, sowie das zerbeulte Benzinfeuerzeug aus seiner alten Einheit. Sein Weg führte ihn zum Schlafzimmerfenster, was er auch prompt öffnete. Ein sanfter, aber kühler, mehr dem Herbst als dem Sommer gleichender Wind begrüßte ihn und trug auf seinen Böen etwas Erfrischendes. Erik steckte sich eine Zigarette in den Mund, zückte sein Feuerzeug und zündete sie an. Einen Moment lang schaut Erik noch auf die zärtlich vom Wind umspielte Flamme, die beinahe so aussah, als würde sie tanzen. Dann schloss er den Deckel des Feuerzeuges und erstickte sie. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und atmete den Rauch hinauf zum Mond. Während Erik so auf den Mond schaute, der erhaben in dem wolkenlosen Himmel der dieser Nacht thronte verfiel er in Gedanken.
Es stimmt, seine Zeit beim Militär war vorbei. Die Uniform, die Kaserne und den Krieg hatte er hinter sich gelassen, doch das Erlebte verfolgte Ihn über den Kasernenzaun hinaus. Körperlich hatte er nur minimale Schäden erlitten. Eine Narbe auf der Schulter markiert noch heute die Stelle, wo die Kugel ihn getroffen hatte. Doch was ist mit den Bildern, die ihn verfolgen? Die Bilder, die ihn eine langjährige Beziehung kosteten, Bilder, die ihn dazu brachten, Freunde und Familie von sich wegzustoßen, sich immer weiter zu isolieren und in den dunkelsten Zeiten sogar darüber nachzudenken, seinem Leben eigenhändig mit der Rasierklinge im Badezimmer ein Ende zu setzen. Wie soll die Psyche es verarbeiten, wenn sich dein Freund sich neben dir durch eine Sprengfalle in roten Nebel verwandelt oder wenn Kameraden leblos auf dem Boden liegen bleiben? Diese Eindrücke veränderten ihn und sein Leben nachhaltig. PTBS wurde ihm diagnostiziert. Posttraumatische Belastungsstörung, eine Krankheit, die ihn für immer begleiten wird.
Den großen Krieg in den Wüstensteppen und steinigen Bergen hatte Erik zurückgelassen, doch nun führte er einen eigenen kleinen Krieg, weit abseits jedes Gewehres. Mittlerweile war Erik in Behandlung, doch kämpfte er immer noch gegen seine Psyche. Trotzdem, er war überzeugt davon, diesen Krieg mithilfe seines Therapeuten, seinen Freunden und seiner Familie gewinnen zu können. Er würde diesen Krieg auch für all die gewinnen, die es nicht nach Hause geschafft, oder den Kampf in der Heimat verloren haben.
Eine starke Windböe riss Erik aus seinen Gedanken. Er nahm einen letzten Zug von seiner kaum gerauchten Zigarette und drehte sie aus. Zum letzten Mal suchten seine Augen den Mond am Firmament. Ein leises, aber Bestimmtes: „Glück – Ab!“, rollte über seine Lippen und gab ihm, wie so oft, neue Kraft.
Er schloss das Fenster, ging an die Schublade des kleinen Beistelltisches neben seinem Bett und nahm eine Schachtel Tabletten hervor. In alptraumgeplagten Nächten halfen ihm die Tabletten beim Schlafen. Er nahm eine der Tabletten, spülte sie mit etwas Wasser hinunter und legte sich in das mittlerweile getrocknete Bett. Das Letzte, an das Erik dachte, bevor er einschlief, war: Morgen wird ein guter Tag.
Danach trieb Erik ab in einen traumlosen, erholsamen Schlaf.
Er hatte einen weiteren Kampf gewonnen.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Pascal Oßadnik, 23 Jahre