gemeinsam einsam

Wettbewerbsbeitrag von Lotti post, 18 Jahre

Ein Manifest an das Alleinsein. Weil wir alle irgendwie gemeinsam einsam sind. Deshalb fühlen wir uns manchmal auch eher nach „Lass mal lieber klein sein!“. Denn so ganz allein will man sich nur klein machen. Wie ein Schatten im Verborgenen, komplett dicht machen. Ganz nach dem Motto: „Bitte nie wieder aufwachen“. Aber das ist nur der Startschuss für die Kriege in unseren Köpfen. Denn dann kreisen die miesen Krisen, die uns die Freude am Leben vermiesen. Sie bilden schlussendlich diesen Teufelskreis, der sich unser Leben nennt. Unser Leben. Gemeinsam einsam.

Das peitschende Prasseln der riesigen Regentropfen reißt mich aus meinen trüben Träumen. Mir scheint es, als reflektiere nicht nur das Wetter, sondern die ganze Welt meine Laune. Die Bettdecke liegt bleiern auf meinem Körper und ich nehme meine trägen Gliedmaßen nur am Rande wahr. Beinahe, als wollten sie mir leise und diabolisch ins Ohr flüstern, der Versuch aufzustehen wäre sowieso nicht lohnenswert. So liege ich hier nun, lausche den Tropfen, die den Takt meines zukünftigen Trauerliedes zu trommeln scheinen, und starre gigantische Löcher in die graue Decke meines Zimmers. Je länger ich mich meinem Selbstmitleid hingebe, desto größer klaffen die angsteinflößenden Mäuler über mir, die mich zuerst nur angaffen, doch inzwischen auch schon perfide auslachen. Bei dieser Vorstellung schließe ich meine Augen und drücke meinen Kopf tiefer in mein Kissen. Ich habe inzwischen keine Angst mehr vor meinen vermehrten miesen Gedanken, aber die schleichende Veränderung raubt mir jegliche Hoffnung und setzt mir schier unüberwindbare Schranken.

Mir rinnt eine heiße Träne über meine glühende Wange und ich vernehme ein leises, entferntes Schluchzen. Als ich begreife, dass dieses Schluchzen meines ist, kann ich die Sturzflut meiner Tränen nicht mehr eindämmen und ertrinke schließlich in ihr. Ich bin mir nicht sicher, ob ich einzelne Sekunden oder mehrere Stunden bitterlich geweint habe, als mich ein andauerndes Dröhnen aus meiner Einsamkeit reißt. Der Versuch, mich diesem zu entziehen, endet im hektischen Abtasten meines uralten Nachttisches.

Die Kälte des Displays wirkt abschreckend, was durch das blaue Licht, das mich meine Augen automatisch zukneifen lässt, noch verstärkt wird. Ein letztes Schluchzen erinnert mich an mein Alleinsein, bevor ich diesem Irrkreis des Teufels verfalle. Verblendet starre ich auf den kühlen Bildschirm und mich überkommt ein starkes Verlangen nach mehr - mehr Nachrichten, mehr Fotos, mehr Videos. Jede Sequenz gibt mir ein besseres Gefühl und meine Lippen umspielt ein leichtes Lächeln bei der Anzahl meiner Likes. „Gefällt mir!“, schallt es durch meine Gedanken und der Krieg in meinem Kopf wird abgelöst von oberflächlicher Geborgenheit. Mit einem Mal sind mir meine fernsten Freunde, meine tiefsten Träume und meine fremdeste Freude ganz nah. Niemand kann meine angeschwollenen roten Augen und die leicht getrockneten Tränen auf meinen Wangen sehen, nicht einmal ich nehme sie noch wahr. Es scheint wie ein Schauspiel, nichts ist echt, aber das Lächeln in meinem Gesicht steht mir kurzzeitig so perfekt. Der Applaus dieses Schauspieles gebührt uns allen - wir sind gemeinsam einsam in dieser modernen, schier makellosen Welt. Und so entsteht zwischen uns ein gefälschtes Gemeinschaftsgefühl, entflammt durch die umwerfende Schönheit sozialer Medien, die einem Beihilfe zur Flucht aus der Realität gibt. Meine Laune steigt mit jedem Video, das ich halbherzig anschaue und nach Sekunden wieder in den Tiefen des Internets verliere. Der nächste mir vorgeschlagene Beitrag bringt mich zum Schmunzeln und weckt prompt den Drang, ihn zu teilen. Bei diesem Versuch rutscht mir das Handy aus der Hand und landet mit einem plötzlichen Poltern auf dem Boden. Mein Blick wandert einige Sekunden über meinen Teppich, wird aber unmittelbar von einem leuchtenden Licht angezogen.

Das Display meines Telefons reflektiert die Sonne und mir schießt augenblicklich die Frage durch den Kopf, wann der Himmel sich wohl der dunklen Regenwolken entledigte. Bei einem Blick zu meiner verdreckten Fensterscheibe entdecke ich zwei junge Mädchen beim Radschlagen, die ununterbrochen ausgelassen kichern, was auch mich sanft lächeln lässt. Meine Augen wandern empor zu den Baumkronen der riesigen Eichen. Sie werden von den Blättern angezogen, die mir anfangs schüchtern zuwinken, bis sie im Wind zu tänzeln beginnen und ihre Vorstellung mit einem tosenden Applaus beenden. Die Vögel führen im Himmel ein atemberaubendes Schauspiel vor, das mir Flügel wachsen und mich endlich Freiheit spüren lässt. Inzwischen hat sich mein strenger Blick in ein unkontrollierbares Lächeln verwandelt, das meinen ganzen Körper zu fluten scheint und Hoffnung aufkeimen lässt. Nach einiger Zeit kitzeln die Sonnenstrahlen mein Nasenbein und ich spüre den Drang, niesen zu müssen, welchem ich widerstehe, der mich aber trotzdem aus meinen Tagträumereien gerissen hat. Mir scheint es, als reflektiere nicht nur das Wetter, sondern die ganze Welt meine Laune. Die Bettdecke, gerade noch friedlich am Fußende meines Bettes liegend, rutscht auf meinen Teppich, als wolle sie mir einen Grund geben, endlich meine Komfortzone zu verlassen. So liege ich hier nun, lausche dem fernen Zwitschern der Vögel, die die Melodie meines Lieblingsliedes zu trällern scheinen, und schaue der Wanderung der weißen Wolken im Himmel zu. Je länger ich mich meinen Träumereien hingebe, desto schöner scheint mir die gesamte Welt, die mich zuerst nur anlacht, doch inzwischen auch schon zum Lachen gebracht hat. Frei von der Traurigkeit, frei von der Mutlosigkeit und vor allem frei von der Einsamkeit, die meine Welt so grau erschienen ließ. Bei dieser Vorstellung schließe ich meine Augen und drücke meinen Kopf tiefer in mein Kissen, das noch immer die letzten Wogen meiner Tränenflut zu glätten versucht, sodass das Alleinsein für den Bruchteil einer Sekunde wieder in meinem Gedächtnis erscheint.
Doch nicht einmal diese Erinnerung konnte mich meines Lächelns berauben und mein Glücksgefühl zunichtemachen. Ich strecke mich, spanne jeden Teil meines Körpers nacheinander an und werde mir diesem dadurch erst richtig bewusst. Mit diesem Bewusstsein vernehme ich meinen Herzschlag, spüre, wie das Leben durch mich hindurch strömt und die damit verbundene Hoffnung ebenfalls. Vieles fehlt nicht zum perfekten Glück, mein Lächeln breitet sich über mein ganzes Gesicht zu einem Grinsen aus, was mich unerwartet zum Kichern bringt.

Denn das ist ein Manifest an das Alleinsein, weil wir alle mal gemeinsam einsam sind. Trotzdem fühlen wir uns manchmal auch nach „Lass mal einfach glücklich sein!“. Denn einsam ist vielleicht auch heilsam. Wie, wenn mich die Trauer überkam, macht mich manchmal lahm, aber mit der Zeit auch unbeugsam, ganz nach dem Motto: „Der Moment, an dem auf einmal die Stärke zurückkam“. Und genau das ist der Startschuss für die Liebe zum Leben, denn dann ist man gemeinsam statt einsam, gleichsam mit Freude am Leben. So bildet sich schlussendlich ein Himmel auf Erden, der sich unser Leben nennt. Unser Leben- gemeinsam einsam.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Lotti post, 18 Jahre