Kintsugi

Wettbewerbsbeitrag von Miriam W., 23 Jahre

Ich habe gar nicht gemerkt, wie ich zerbrochen bin. Schlag um Schlag habe ich eingesteckt und mir ist nichts passiert. Nur ein kleiner Riss hier und da in meiner gläsernen Seele. Aber was macht das schon?

Brillenschlange. Du bist hässlich. Dick. Absolut wertlos.

Solche Wörter können mich nicht brechen, redete ich mir ein. Und das taten sie auch nicht. Mit der Zeit wurden diese Worte seltener und kamen schließlich gar nicht mehr. Zumindest nicht zu mir.
Sie hatten ein anderes Opfer gefunden und ich konnte in Deckung gehen. Was ich auch tat. Ich stand daneben, schaute zu, als jemand anderes meinen Platz einnahm und diesen Schmerz fühlen musste. Ich stand daneben, schaute zu und unternahm nichts. Weil ich froh war, dass es nicht mehr mich traf.
Irgendwann hörte es ganz auf und erst als ich aus meinem Versteck herauskam, bemerkte ich den Schaden. In all der Dunkelheit und Angst hatte ich gar nicht gesehen, dass mein Innerstes ein Scherbenhaufen war. Jetzt, im hellen Licht, ist es offensichtlich und die vielen Scherben reflektieren ihre grausame Entstehung. Jede scharfe Kante zeigt, wie die Worte in mich geschnitten haben. Die Worte, die an mich gerichtet waren und auch die, die es nicht waren.

Lange konnte ich es nicht ertragen, mich mit mir selbst zu beschäftigen, weil jeder Blick nach innen wehtat. Ein falscher Gedanke und ich schnitt mich an den Splittern wieder auf. Aber Stück für Stück nahm ich jede einzelne der Scherben auf, betrachtete sie aus allen Winkeln und versuchte sie wieder zusammenzufügen. Dabei habe ich mich oft verletzt. Und oft brach wieder etwas auseinander und ich musste neu beginnen. Manchmal passte auch einfach etwas nicht mehr zusammen und ich musste das so akzeptieren. Ich bin ein anderer Mensch geworden und kein unschuldiges Kind mehr. Das ist in Ordnung, denn Veränderung ist wichtig und der Prozess der Selbsterkenntnis absolut notwendig. Und schon alleine mit dem Versuch, mit sich selbst ins Reine zu kommen und sich wieder kennenzulernen, hat man viel gewonnen.

Somit ist jedes Teil, das ich repariere ein Erfolg und jeder Riss, den ich schließe, wird mit Gold verziert, denn er hat es verdient. In Japan ehrt man das so das zerbrochene Geschirr - wieso sollte ein Mensch seiner Seele weniger Achtung entgegenbringen?
Natürlich bedaure ich hin und wieder, die Vergangenheit nicht ungeschehen machen zu können. Ich wünsche mir oft, ich hätte anders gehandelt. Wäre nicht untätig gewesen, als andere verletzt wurden, sondern mutig und hätte sie verteidigt. Aber das lässt sich nun mal nicht ändern. Nur die Zukunft kann beeinflusst werden.
Auch daran erinnert mich das Gold. Mahnt mich, es besser zu machen, mahnt mich, auf Worte zu achten. Auf die Worte, die ich spreche und welche Wirkung sie haben. Auf Worte, die andere benutzen und manchmal unbedacht geäußert werden. Auf Worte, die oft ungesagt bleiben, obwohl manche sie wirklich dringend hören sollten.

Danke. Du bist wichtig. Du bist toll, wie du bist.

Von Zeit zu Zeit finde ich immer noch Splitter. Ich glaube, ich werde nie alle finden können und sicherlich wird auch noch der eine oder andere Neue hinzukommen. Aber auch das ist in Ordnung, diesmal kann ich damit umgehen. In der Zwischenzeit nutze ich all das Licht hier, von dem ich gar nicht wusste, dass es mir fehlte. Ich gebe mir Mühe, es auch für andere scheinen zu lassen, damit auch sie sich selbst und ihre Mitmenschen richtig sehen können.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.