Drei Sonntage aus meinem Leben – Ein ganz normaler Sommer

Wettbewerbsbeitrag von Emma, 17 Jahre

Tagebucheinträge

19. Juni 2022

Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass Zahlen mehr wert sind als Menschen. Zahlen über Zahlen. Immer das gleiche. Wenn du keine möglichst kleine Zahl hast, eine Bestnote, bist du ein Versager. Und dann ändern sich die Zahlen. Weil du langsam erwachsen wirst. Jetzt müssen sie hoch sein. Nicht unter 10. Am besten 15. Am besten immer. Zahlen über Zahlen, die dir sagen, wie viel du wert bist. Und wenn du nicht die passenden hast, bist du nichts wert und erreichst nichts und kannst nichts und bist ein Nichts.
Weil Zahlen mehr wert sind als Menschen.
Weil irgendein alter Mann, der nicht weiß, wer du bist, nicht deine Schrift unter hunderten erkennt, dir plötzlich sagt, wie viel wert du bist. Und wenn du dann zu oft nicht die richtigen Zahlen hast, rufen sie deine Eltern an.
"Hängt hinterher"
"Strengt sich nicht an"
"Ist zu ruhig"
"Geht unter"
Ja, ich gehe unter. In euren Zahlen, in dem, was ihr ein System nennt. Doch ich nenne es eine Folterkammer. Ich träume von Zahlen an Tafeln und Zahlen auf Papier, in winzigen Karos und verliere mich langsam, immer mehr.
Überall nur Zahlen.
Wenn ich eins nie erwartet habe, dann, dass Zahlen dir so ins Fleisch schneiden können. Dass sie dich umbringen können. Dass sie auf einmal sagen können, wer du bist. Dabei sind sie doch nur Tinte auf Papier.
Nie habe ich erwartet, dass ich irgendwann Angst vor Zahlen haben würde.
Doch nun sind Zahlen plötzlich alles, was mich ausmacht.
Einmal nennt man einen Ausrutscher.
Zweimal ist eine Warnung.
Nach dem dritten Mal bist du verloren.
Mathe 5 und du wirst niemals einen Job bekommen.
Ihr habt uns kaputt gemacht mit euren Zahlen. Und die Wahrheit ist, es interessiert niemanden.
"Das System"
"Es ist das System"
"Da muss man halt durch"
Euer System hat Leben genommen, für zweimal eine 6 auf einem Blatt Papier, das mein Leben bestimmen soll.
Zahlen haben mich ermordet.
Doch können Worte immer noch retten.
Wo Zahlen zu Feinden werden und das System dich schon zur Hälfte verschlungen hat, bleiben nur noch Worte, denn den Mund können sie dir nicht verbieten. Selbst wenn sie dich „dumm“ und „faul“ und „hoffnungsloser Fall“ nennen, Zahlen können sie dir nicht auf den Mund kleben.
Menschen sind keine Zahlen. So viel Macht sollten Zahlen niemals haben. Wir sind nicht der Fehler im System. Das System ist der Fehler.
Denn wenn ich eins weiß, dann, dass Menschen so viel mehr wert sind als Zahlen.

*24. Juli 2022*
Deine Welt besteht aus Schreien und zerbrochenem Glas. Aus zugeknallten Türen und verlaufener Mascara. Aus quietschenden Autoreifen und leeren Bierflaschen. Weil es manchmal schlimmer ist, oben auf dem Boden zu liegen und zu hören, wie unter dir die große Liebe zerbricht. Eine Liebe, die dich doch überhaupt erst hier hin gebracht hat. Und du kannst nichts machen. Du hast gebettelt. Du hast geweint und geschrien und um dich geschlagen. Er ist trotzdem gefahren. Und Mama hat die ganze Nacht geweint und ihn verflucht und seine Sachen aus dem Fenster geworfen. Und am nächsten Morgen hat sie sie wieder aufgehoben und in die Mahagoni-Kommode gelegt, die sie zusammen gekauft haben, als sie in das Haus gezogen sind. Das Haus, in dem Bilderrahmen jetzt zersplittert sind und der Haussegen schief hängt. Das Haus, das tagsüber von Schreien geschüttelt wird und nachts in Tränen schwingt.
Das Haus, was einmal zu Hause war.
Jetzt ist es nur noch ein Haus.
Nein. Nicht mal das.
Es ist die Hölle.
Du weißt, dass alles verloren ist, wenn du lieber bei Leonie zu Hause sitzt, wo ihre Eltern sich nicht anschreien und ihr Papa ihre Mama küsst und die Teller ganz sind.
Und zu Hause ist alles kaputt.
Die Möbel.
Die Teller.
Die Bierflaschen.
Das Bild, was du Papa gemalt hast, als du fünf warst.
Und die Menschen.
Es ist nur noch ein Schlachtfeld.
Und sie sagen, es wird besser.
Mama sagt, irgendwann werden wir wieder glücklich.
Doch es ist schwer, das zu glauben, in einer Welt voller verlaufener Mascara und geknallten Türen und leeren Mahagoni-Kommoden.
Und irgendwann geht dann morgens die Sonne auf, wie sie es eigentlich jeden Tag macht. Und es ist ganz leise. Zum ersten Mal hörst du draußen wieder die Vögel und nicht Papas Schreie oder Mamas Weinen.
Und vielleicht füllt sich die Mahagoni-Kommode auch wieder mit neuen Sachen.

*28. August 2022*
2 Monate, 10 Tage, 14 Stunden, 20 Minuten, 56 Sekunden.
Nein. 2 Monate, 10 Tage, 14 Stunden, 20 Minuten und 59 Sekunden.
Und es tut immer noch weh. Und es wird nicht aufhören wehzutun. Weil da etwas kaputt gegangen ist. Ganz tief in mir. Herz gebrochen, ist die Diagnose. Wenn es doch nur so einfach wäre. Wenn man einfach einen Gips drum herum machen könnte und alles wieder gut wäre. Wenn du wieder neben mir liegen würdest. Weil du dich doch in mein Herz geschlichen hast, bevor du gegangen bist und die Tür geknallt hast. Einfach so.
Vor 2 Monaten, 10 Tagen, 14 Stunden, 21 Minuten und 10 Sekunden waren wir verliebt. Und dann haben sie dich mir weggenommen. Du bist gegangen. Ohne ein Wort. Nicht einmal dein Gesicht habe ich gesehen, als mein Display geblinkt hat. Und da stand dein Name mit einem Herz und ich habe mich gefreut, weil ich doch so verliebt war.
„Es tut mir leid“
„Wir hätten das niemals tun dürfen“
„Meine Eltern werden das niemals verstehen“
„Das ist falsch“
Was an meiner Liebe war falsch?
Warum soll ich mich schämen, weil ich mich in ein wunderschönes Herz verliebt habe?
Warum darf ich nicht lieben?
Warum musste mein Herz zerbrechen?
Ich war doch nur verliebt. So wie jeder andere, aber doch nicht ganz. Vor 2 Monaten, 10 Tagen, 14 Stunden, 25 Minuten und 4 Sekunden war ich verliebt. Obwohl ich nie geglaubt habe, dass jemand wie ich geliebt werden könnte. Du hast mich doch geliebt? Du hast mir das erste Mal das Gefühl gegeben, dass es okay ist. Ich war doch nur verliebt.
Weil ich jung bin. Weil ich emotional bin. Weil ich mich in ein einziges Lächeln verlieben kann, wenn das Herz dahinter stimmt.
Ich habe mich nicht in ein Gesicht oder in eine Stimme oder in Haare oder Augen verliebt.
Ich habe mich in ein Herz verliebt.
Und es war trotzdem falsch. Weil es immer falsch ist, wenn Menschen wie ich sich verlieben. Weil Liebe bei allen anderen das Schönste überhaupt ist, aber bei Leuten wie mir ist es eine Schande. Eine Sünde.
Ich habe nie verstanden, wie ein Gott Liebe hassen kann.
Ich habe nie verstanden, warum du gehen musstest. Warum du mir gesagt hast, dass unsere Liebe falsch war, obwohl sie das Schönste auf der Welt war.
Warum?
Warum darf ich mich nicht einfach verlieben? Ich habe doch nichts getan.
Aber sie haben uns kaputt gemacht. Haben uns dazu gebracht uns selbst zu hassen.
Ach, und wie ich mir gewünscht habe, nie wieder lieben zu müssen.
Vor 2 Monaten, 10 Tagen, 14 Stunden, 42 Minuten und 17 Sekunden habe ich angefangen, Liebe zu hassen.
Vor 40 Minuten habe ich damit aufgehört.

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Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Emma, 17 Jahre