Strand

Wettbewerbsbeitrag von Nathan, 21 Jahre

Die Ziffern brennen sich in meine Netzhaut, bleiben wie Brandmarken, wenn ich die Augen zupresse. Mit zitternden Händen klammere ich mich an mein Handy, damit es nicht wieder auf den Schreibtisch fällt.

Die Nummer stimmt, jetzt wähl doch endlich! Aber ich kann nicht. Mein Magen protestiert, die Blase drückt und die Hände beben weiter.

Du schaffst es wieder nicht.
Stimmt das? Nein, ich muss mich zusammenreißen, es endlich durchziehen. Mama macht für mich keine Anrufe mehr, auch keine Termine beim Zahnarzt. Schließlich bin ich jetzt erwachsen, also muss ich aufhören, mich albern zu benehmen und es endlich durchziehen.
Trotzdem ist es wieder da. Ich rieche das Desinfektionsmittel, in der Rezeption klingelt das Telefon und im Wartezimmer durchbricht ein Kinderschrei das Schweigen. Am andern Ende des Flurs schlägt die Türe zu, schließt mich ein. Ich knete mir die Hände, während der Stuhl nach hinten fährt, meine Beine hochhebt und das Licht mich blendet. Mein letzter Blick gilt Mama, wie sie in der Ecke sitzt, darauf wartet, nach mir an der Reihe zu sein. Über das Modemagazin hinweg lächelt sie mich an und blättert dann weiter. Ihre Ruhe steckt an und vertreibt für einen Moment den Kloß in meinem Hals.

Der Schlauch saugt die Spucke weg und mit ihr geht der Mut. Der Arzt sagt etwas. Er ist noch jung und freundlich, aber es hilft nichts. Mein Kopf kann den Worten keine Bedeutung zuordnen. Also sperre ich den Mund weiter auf, versuche an den Strand zu denken, die Muscheln, die Krebse und Mama, wie sie sich auf ihrem Handtuch sonnt. Hier bei ihr möchte ich bleiben. Doch ein Schlürfen durchbricht das Rauschen der Wellen, ein Spiegel presst sich kalt gegen meine Zunge.

Ich reiße meine Augen auf und sehe den Einweghandschuh, der zum kleinen Bohrer greift. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Der Arzt sagt was von „Krone polieren“, doch der Rest geht im Surren unter, das in meinem Schädel vibriert.
Besser ich schließe die Augen, begebe mich an den Strand, an dem jetzt ein sanftes Erbeben den Sand zum Tanzen bringt. Die Dünenmuster kommen und gehen, die Möwen steigen zu den Wolken empor. Ich bleibe, während die Muscheln im Sand versinken. Mamas Handtuch ist leer.

Dann verstummt das Summen. Das Schäumen und Rauschen der Wellen kehrt zurück. Doch mein Bauchgefühl sagt, etwas stimmt nicht. Ich blinzle gegen das Licht. Der kleine Bohrer ist wieder an seinem Platz, die Stelle daneben aber ist leer.
Gleich darauf vibriert mein Kiefer im Takt des großen Bohrers. Die Sturmwogen überschlagen sich, spülen mir den Sand unter den Zehen weg bis kein Korn übrig ist. Jetzt kann ich nirgends mehr hin. Ausgeliefert starre ich an die Decke, bete, dass es aufhört, gleich aufhört.

Es hört nicht auf. In meiner Mundhöhle rummort eine ganze Baustelle. Der Bohrkopf tanzt um das Loch herum, das mich hierher gebracht hat. Alles wackelt, außer der maskierten Gestalt über mir. Der Arzt starrt konzentriert auf mich herab, und ich fühle mich winzig.
Da passiert es. Der Bohrkopf rutscht ab. Ich zucke zusammen, mein Zahn brennt. Der Schmerz sticht tief, tiefer als die Fingernägel in meine Haut. Erschrocken ruft der Arzt der Assistentin etwas zu. Der Bohrer ist aus. Trotzdem zittert mein Kiefer weiter, egal wie fest ich die Lippen zusammenpresse. Heiße Tränen quellen mir aus den Augen. Es lässt nicht nach und Panik steigt in mir auf. Er spricht mit mir, bittet mich den Mund zu öffnen. Doch ich will nicht, ich kann nicht. Mein Stoßatmen droht sein Flehen zu übertönen. Aus dem Zahn wächst es, strahlt überallhin. Mit jedem Herzschlag pulsiert es im gesamten Gebiss, wird immer schlimmer. Nichts kann mich dazu bewegen, den Mund wieder aufzumachen.

Dann ist Mama da. Sie hält meine Hand und ich sehe ihr verschwommenes Lächeln durch die Tränen. Ich will mich zwingen, den Weg zum Zahn freizugeben. Die Betäubung hat der Arzt schon in der Hand. Schließlich schaffe ich es. Es pikst. Natürlich hilft es nicht sofort, aber Mama ist da. Ich zerquetsche ihre Hand, dass meine Knöchel weiß werden, doch sie lässt nicht los. Erst als der Schmerz dumpf wird, kann ich meine verkrampften Finger entspannen.

Ich wollte das alles vergessen. Dennoch ist mir das Handy wieder auf den Schreibtisch gefallen, von wo aus die Zahlen mich anstarren. Sie sind die einzigen, die mir Gesellschaft leisten. Erwachsene sind so allein. Ich will nicht allein sein.
Meine Hände zittern noch immer und trotzdem hebe ich das Handy auf.
Du schaffst es wieder nicht.
Aber ich muss. Mein Daumen zittert über dem Touchscreen.

Du bist erwachsen, jetzt wähl doch endlich! Selbstgespräche hatten letztes Mal auch nichts genützt.
In Gedanken stellt sich Mama neben mich. Mir ist egal, wie kindisch das ist, es muss sein. Sie ist mein Strand. Dort bin ich sicher. Es macht nichts, dass es nur eine Vorstellung ist.
Mama lächelt.
Ich drücke.
Mein Herz rast, mir wird schlecht, aber ich presse das Handy ans Ohr. Alle zurechtgelegten Worte sind wie weggewischt. Dann bin ich verbunden.
„Guten Tag, Zahnmedizin Dr. Schenkele. Wir entschuldigen die Unannehmlichkeiten, die Praxis ist aufgrund von Urlaub geschlossen.“
Anrufbeantworter. Erleichtert sinke ich zusammen. Ich habe es geschafft.
An meinem Strand schaffe ich es wieder.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.