Polaroid Plus

Wettbewerbsbeitrag von Noah Baron, 17 Jahre

Hinweis:
Der nachfolgende Text wurde chronologische sortiert.
Er entstammt aus dem Nachlass von Marvin Schulz der am 8.7.2026 als vermisst gemeldet wurde.


POLAROID PLUS

Gebrauchsanweisung

Lesen Sie die Gebrauchsanweisung des Produkts gut durch.

Polaroid Plus kann süchtig machen und ihre sozialen Beziehungen nachhaltig stören.

Setzen sie das Produkt nicht überwiegend hohen Temperaturen aus.


Polaroid Plus, das hybriddigitale Foto- und Familienalbum wird folgendermaßen angewendet.

Blättern sie das Fotoalbum um und schauen sie hinein. Nach einiger Zeit werden die täuschend echten Pixel in ihrer eingeschränkten Realität freigegeben, die unsere Künstliche Intelligenz für Sie individuell erstellt.


*Tagebucheintrag vom 22.6.2026*

Chen war gestern da und hat es schon bewundert.

Sie ist irgendwie skeptisch.

Wir haben dieselbe Geschichte sind nicht alt, nicht jung. Ich war sofort in sie verknallt, als ich sie das erste Mal in Freistatt sah. Bei uns gab es nie glückliche Familienfotos auf dem Badezimmerspiegel.


Ich hab mir Polaroid plus gekauft. Spaßesshalber. Es funktioniert sogar.

Gierig schlug ich Seite für Seite auf.

Ich sah mich als kleines Kind im Tragetuch eines jungen Mannes, der mir wie aus dem Gesicht geschnitten schien.

1 zu 1

Bin ich das?

Auf glücklichen Familienfotos, bei Großeltern im Urlaub, im Einfamilienhaus mit glatt gemähten britischen Rasen.

Tesla und Thermomix.

Mein erster Versuch zu kochen.

Kläglich gescheitert.

Ich sah mein Jüngeres ich bei ausschweifenden Partys und bezaubernden Sonnenuntergängen.

Wischte zitternd über jede weitere Folie.

Vor- und wieder zurück.

Die Personen und meine Ichs aller Altersstufen im Album lächelten mich an und zwinkerten mir zu.

Real?


*Eingeklebte Notiz*

„Das tust du nicht, das ist alles nicht echt. Das sind Deepfakes.“

„Lass mich in Ruhe.“

„Das bist typisch du.“

„Das bist du selbst.“

Shut up!


*Eingelegter Zeitungsschnipsel*

Süddeutsche vom 23.6.2026

Die Bundesregierung unter Kanzler Amthor hat gestern die Löschung aller digitalen Daten beschlossen, da durch die weitreichende Ressourcenknappheit zunehmend die Infrastruktur der gesamten Bundesrepublik gefährdet wird müssen weitreichend und flächendeckend besonders ressourcenverbrauchende Verfahren eingestellt werden. Größtes Einsparpotenzial bietet laut einer Analyse des Statistischen Bundesamtes die Löschung von jeglichen Daten und Datenmüll, die als einzigen Zweck das Amüsement haben. Das neue Dataresort der Regierung nimmt sich daher das Recht heraus alle nicht systemrelevanten ausgelagerten Datensätze vollständig zu löschen und die Datenträger zu resetten. Im ersten Schritt werden sämtlicher Essensfotos sowie Tanz-, Trink- und Katzenvideos gelöscht. Dies führt bereits zu einem signifikanten Platzgewinn. Nach der Übergangseinheit von 4 Reboots werden alle weiteren nicht systemrelevanten privaten Daten resettet. Die Regierung, so betonte Regierungssprecherin Lena Meyer Landruth, ist sich der Härte dieses Schrittes bewusst, in Anbetracht der globalen Krise ist dieser jedoch alternativlos.


*Welt* vom 23.6.2026

Lange überfälliger Schritt endlich umgesetzt. Kanzler Amthor löscht öffentlich sein erstes Fischbrötchenselfie


*BILD* vom 24.6.2026

Schiere Panik! Sind meine Urlaubsbilder sicher! Regierung hält Kurs


*Der Freitag* vom 26.6.2026

Zurück zu den Wurzeln. 73 Ideen für ein Leben ohne Datensatz


*T-Online* vom 26.6.2026

Illegale Cloudanbieter boomen



*Richard David Precht* spricht mit Richard David Precht – der erfolgreichste deutschsprachiger Podcast vom 27.6.2026

Leben ohne Daten,  was macht uns jetzt noch zum Menschen?


*Tagebucheintrag vom 3.7.2026*

Was ist ein Mensch ohne seine daten, seine Familie, seine Freunde?

Was ohne eine Geschichte, die es über ihn zu erzählen gibt?


Was mir heute passiert ist muss ich unbedingt loswerden. aber lieber hier als bei Chen oder sonst irgendjemandem. Sonst würden mich alle für verrückt erklären.

Letztens beim Einkaufen wollte ich mir Oldies von Billie Eilishs kaufen, da hörte ich ein Neugeborenes neben mir schreien, ich blickte mich um.

Schaute mir das Kleine genauer an.

Es lag in einem Tragetuch, machte ein Bäuerchen und grinste wieder satt und glücklich lächelnd. Das Gesicht des Kindes erinnerte mich an eine jüngere Version meiner selbst.

Ich hob meinen Kopf und blickte in das Gesicht des väterlichen Trägers.

Es kam mir vor als stehe dort mein älteres Ich, mit Dreitagebart.

Ich in jung und alt.

Der Vater starrte sorgfältig arrangiert und perfekt ausgeleuchtet zurück.

Er zwinkerte mir freundlich zu.

Alles an ihm erinnerte mich an mein hybrides Fotoalbum. Meine Augen blinzelten. Als ob mein hybrides Erinnern und meine Gegenwart miteinander zu verschmelzen schienen.

Ich wollte nur noch weg so schnell es ging.


*Push Nachricht*

Wallet Apple Pay

Der Betrag XXX wurde von ihrem Konto XXX gerade kontaktlos abgebucht.


*Tagebucheintrag vom 7.7.2026*

Chen hatte recht mit diesem Polaroid plus Album stimmte etwas doch ganz und gar nicht. Oder mit mir? Hatte ich zu viel getrunken?

Die beiden Personen bei Rossmann schienen wie aus meinem Album entsprungen.

Doch diese Begegnung war für mich nicht die letzte.

Tag für Tag, Woche für Woche traf ich immer mehr Personen die ich von meinem Polaroid plus Fotoalbum wiederzuerkennen glaubte.

Ich hatte Tage, da traute ich mich nicht mehr an mein Album heran.

Ich zitterte.

Musste einfach sehen wie es weiterging, mit dem Bildern, mit den Videos.


Doch auch wenn es das Letzte ist was ich hier schreibe, heute habe ich einen Plan gefasst.

Ich werde solange mit meinem 90€ Ticket durch die Gegend touren bis mir wieder eine Person aus meinem Buch begegnet. Dann werde ich sie verfolgen und ansprechen.

Du hältst jetzt meine Aufzeichnungen in deinen Händen. Hilf mir. Erstelle ein Backup und reiche sofort einen Antrag bei der örtlichen Digitalbehörde ein, damit meine Aufzeichnungen nicht gelöscht werden. Bitte!


*Tagebucheintrag vom 9.7.2026*

Da stand ich also an irgendeinem Bahnhof zwischen hierhin und von dort schnell wieder weg. Die ersten Fotos hatten sich da schon zu verändern begonnen.

Personen auf Fotos lösten sich auf.

Doch nach einiger Zeit zeigten sich durchschimmernd immer deutlicher werdend

neue Personen auf den Bildern.

Sie kamen und gingen wie im echten Leben.

Ich beobachtete einen Jungen. Er schien sich ungestört zu fühlen.

Fast so groß wie ich.

Mein jüngeres Ich.

Der Junge schlug sein Buch auf.

Es war das digitale Fotoalbum Polaroid plus.

Plötzlich gesellten sich noch mehr Gestalten dazu.

Ich erkannte den Vater, die ältere Dame, den Säugling alle mit einem eigenen aufgeschlagenem Fotoalbum.

Werde ich paranoid?

Ich sprach sie an .

Alle.

in der Stadt, der Bahn, zu Fuß, auf dem Rad .

Ich hatte nicht mehr viel Zeit.

In zwei Tagen würde alle Daten gelöscht werden.

Dann wären Die Fotoalben leer. Sie waren nicht mehr als wichtiger Datenträger qualifiziert.


Wohin gehen all die Daten, wenn sie gelöscht werden?

All das Lachen, die Tränen, die Träume und Verletzungen, all die lachenden Menschen in den Profilen, unseren Freundesgruppen, unsere Herzchenemojis.

Was passiert mit ihnen?


Was passiert mit mir?

                        Wohin gehe      ich?

                                                        *Mut*


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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: von Noah Baron, 17 Jahre