Spiegelscherben

Wettbewerbsbeitrag von Vivien, 16 Jahre

Das Erste, das mir auffiel, war, dass der Spiegel im Badezimmer abgedeckt war.
Ich mochte Krankenhäuser nicht. Sie riechen fremd und abstoßend und die Spannung zwischen den Leidenden und dem Leiden der Angehörigen machte die Luft unerträglich.
Ich fühlte mich zerschlagen, mein Kopf pochte, vor meinen Augen flimmerte es. Nein, falsch. Nur vor einem Auge. Das andere Auge… Meine Finger zitterten, als sie über den rauen Verband strichen, der sich um meinen Kopf und mein Gesicht wand. Ich lehnte mich zurück und blinzelte ins Licht der Deckenlampe, das zu den Scheinwerfern des LKWs wurde. Die Bilder unseres sich überschlagenen Autos blitzten in mir auf, der Aufprall und dann die Glasscheibe, die splitterte und durch die Luft schoss – genau auf mich zu.
Die Tür ging auf und eine Frau kam herein.
„Bist du aufgewacht“, sagte sie.
Ich hatte so unendlich viele Fragen, aber kein Laut drang aus mir. Mein Kiefer schmerzte zu sehr, als dass er sich bewegen konnte. Die Schwester strich mir über die Stirn.
„Alles wird gut.“ Ihre Stimme war zu sanft, um ihr nicht glauben zu können.
Sie half mir, zu trinken und mich zu erleichtern. Und immer baute sich die Pappe auf dem Spiegel vor mir auf, als wollte sie mich verhöhnen.
Die Tage vergingen, ich bekam Blumen und Schokolade und Karten.
Liebe Eva,
Wir hoffen, dass du bald gesund wirst. Wir sind für dich da.
Deine Klasse 10.
Am Morgen des dritten Tages löste die Schwester die Bandagen von meinem Gesicht und ging dann, um eine neue Rolle zu holen. Jetzt, wo der Verband weg war und die Luft an meiner Haut kribbelte, konnte ich nicht mehr stillsitzen. Mein Kopf protestierte schmerzend, als ich mich aus dem Bett quälte und ins Badezimmer stolperte.
Ich wusste, dass ich das nicht tun sollte. Aber ich musste einfach. Vorsichtig knibbelte ich die Klebestreifen an der Kante ab. Den Ersten. Den Zweiten. Den Dritten oben links. Das genügte. Die Pappe rutschte zur Seite.
Und da sah ich mich das erste Mal im Spiegel. Die linke Hälfte meines Gesichts war zerstört. Zerfleddert, zerrissen, geschwollen, mit etlichen schwarzen Fäden zusammengehalten. Mein linkes Auge war weiß.

Als ich in die Schule zurückkehrte, waren die Menschen wie erstarrt. Sie bemühten sich, ihre Emotionen zu verbergen, ein Lächeln auf ihre Lippen zu zwingen. Aber ein Oscar-würdiger Preisträger für Best-Performance-in-Schau-Eva-ganz-normal-an, war nicht darunter. Ihre Gesichter zuckten wie Blitze auf, bevor sie anfingen zu lächeln, als wollten sie mir ihren Zahnarzt empfehlen. Anfangs versuchten sie alle, nett zu sein. Als wir Völkerball spielten, wurden mir die ganze Zeit Bälle freundschaftlich zugeworfen, auch von Leuten, mit denen ich nie ein Wort gewechselt hatte. Doch fangen tat ich die Bälle nie. Ich konnte nicht mehr einschätzen, wie der Ball flog, wo er war, wann ich nach ihm greifen musste. Irgendwann warf mir niemand mehr den Ball zu. Und als Kim einmal an mich stieß, kam statt einer Entschuldigung ein Schrei. Sie schrie nicht vor Überraschung, weil sie gegen mich gestolpert war. Sie schrie vor Angst. Angst, so nah an mir zu stehen und in mein Auge zu blicken, das gar kein Auge mehr war.
Selbst wenn ich eine Sonnenbrille trage, um das Auge zu verdecken, sehen die Leute es: Meine vernarbte Wange, die zerfurchten Lippen, meine fehlende Augenbraue, die Narbe an der Kopfhaut, wo kein Haar mehr wächst. Aber wie soll man auch anders aussehen, wenn man in die splitternde Glasscheibe eines Autos gerammt ist. Ein Wunder, dass mein Schädel nicht in zwei Hälften gerissen wurde.
Wie bei meinen Eltern.
Irgendwie hatten sie es nicht geschafft. Irgendwie waren sie mit den Köpfen gegen die Wände gestoßen. Irgendwie hatten ihre Wirbelknochen nicht standhalten können. Irgendwie waren ihre Nacken gebrochen. Irgendwie waren sie gestorben.
Euch mag die Schilderung kalt vorkommen. Aber so war ich nun. Kalt. Leer. Zombie, so nennen sie mich. Untote. Einfach, weil ich mich von meinem Schmerz ziehen ließ. Die Sehnsucht nach meinem alten Leben.
Und so kam es, dass ich anfing, alles zu verlieren. Ich verlor meine Freunde, meine Klassenkameraden. Ich wollte mit niemanden mehr etwas zu tun haben. In meinen Augen waren sie alle Heuchler. Ich wurde trotzig, begann, nette Worte niederzudrücken und zu ignorieren. Meine Lehrer versuchten noch einige Male meine Schale zu durchbrechen dann, gaben sie auf.
Und als die Kälte in mir immer weiter vordrang, bekam ich Angst und ritzte, um nicht vollkommen in Schwärze zu versinken. Der Schmerz löste das taube Gefühl, das mich festhielt und die grotesken Schlieren meines Blutes faszinierten mich. Manchmal rauchte ich.
War die Schule aus, schloss ich mich in meinem Zimmer ein – es gehörte einem Waisenhaus an. Meine Paten brauchten „noch Zeit, die Situation zu überdenken“. Ich wusste, es ging nicht darum, welches Zimmer ich bei ihnen bekommen sollte. Aber es war mir auch egal.
Mein Zimmer hier war kahl, nur auf dem Schreibtisch blühte ein farbenfrohes Leben aus den Blumen, den Karten und der Schokolade, die man mir geschenkt hatte. Ich brauchte sie nicht und wollte die Süßigkeiten den Kindern im Heim geben. Aber kleine Kinder waren in meiner Umgebung nicht erlaubt. Nicht, dass sie es nur gewagt hätten.
Mechanisch nahm ich eine Karte aus dem Stapel. Es war die meiner Klassenkameraden. Ich schlug sie auf, ohne jeden Grund und flog über die Zeilen. An den letzten Worten blieb ich hängen.
Wir sind für dich da.
Ich nahm mein Feuerzeug und zündete die Karte an. Wie Federn eines zerfetzten Vogels segelten die schwarzen Schnipsel zu Boden.

Es regnete in Strömen, dicken Tropfen prasselten auf den nachtschwarzen Asphalt. Ich stand regungslos in einer Böschung, kalt rann der Regen über mein Haar, mein Gesicht. Der Zug kam. Ich hörte das Metall vibrieren, sah seine Lichter in der Ferne.
Der Zug kam näher.
Ich spannte meine Knöchel an, meine Beine. Ich würde springen. Ich würde unter den Rädern des Zuges zersplittern, mein Blut als schwarze Fontäne in den Himmel spritzen.
Der Zug kam näher.
Es war das einzig Richtige. Ich wollte mein Leben nicht mehr leben, weil es kein Leben mehr war. Ich hatte keine Familie. Ich hatte keine Freunde. Ich hatte kein Gesicht. Was ich hatte, war die Angst anderer, wenn sie mich sahen.
Der Zug kam näher. Und ich sprang. Die Tropfen peitschten mein Gesicht, die Lichter stachen wie Messer in mein Auge. Und unter das Dröhnen der Gleise drangen Geräusche an mein Ohr. Kreischen und Fauchen, Bellen.
Ich wurde in die Realität zurück geworfen und wandte den Kopf. Und dort drüben war sie, an eine Häuserwand gedrängt, umgeben von räudigen Hunden, die drohend auf sie zukamen. Eine Katze. Eine zerfledderte, mit Schmutz und Blut überdeckte Katze. Sie zeigte ihre Zähne und hieb wild auf die Hunde ein. Sie war eine Kämpferin. Voller Lebenswillen, voller Kraft. Im Licht der Straßenlampe leuchteten ihre Augen wie feurige Saphire. Nein, falsch. Nur ein Auge. Das andere war weiß.
Und da wusste ich, was ich zu tun hatte.
Der Zug rauschte an mir vorbei.
Ich drehte mich  um und rannte davon.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: von Vivien, 16 Jahre