Das Mosaik eines Vogels

Wettbewerbsbeitrag von Lilli Hochstadt, 18 Jahre

Die Welt ist grau. Ich weiß, dass dort einmal Farben waren, aber ich kann mich nicht an sie erinnern. Ich weiß, dass dort einmal mehr war als dieses ewige, leblose Grau, aber ich kann nicht danach greifen. Ich weiß, dass du fort bist. Und dass du niemals zurückkehren wirst. Ich weiß so Vieles und doch habe ich nichts.
Außer dem Schmerz. Schmerz in meiner Brust, der verhindert, dass ich atmen kann. Schmerz in meinem Kopf, der verhindert, dass ich denken kann. All der Schmerz, der verhindert, dass ich leben kann.
Erinnerst du dich an die Filme, die du gerne gesehen hast? Eine harmlose Geschichte, aber mit einem bitteren Beigeschmack. Die Sorte von Film, bei der man schon von Anfang an weiß, dass noch etwas Schreckliches passieren wird. Dann stirbt die Frau des Protagonisten, der Vater oder vielleicht das Kind. Ich habe dich immer angesehen, die Tränen in deinen Augen. Mal wieder weinst du, das tust du jedes Mal, selbst wenn du eine Komödie schaust. Ich dachte immer „Es ist doch nur ein Film“, habe zugesehen, wie die Hauptfiguren sich zu ihrem Happy End zusammenrafften, bis schließlich der Abspann über den Bildschirm wanderte.
Wie dumm und naiv ich doch war.
Ja, es waren nur Filme, aber das macht ihren Inhalt nicht weniger real. Ich habe immer geglaubt, das, was sie zeigten, wäre so weit entfernt, wie etwas, das nur in einer anderen Welt geschehen könnte. Natürlich starben Menschen, jeden Tag, manche plötzlich, manche nach einer langen Krankheit. Das war schade, aber es betraf mich nicht. Nein, es war immer alles ganz weit weg.
Und dann musste ich lernen. Ich lernte, wie falsch ich lag, als du gingst.
Die Leute sagen, ich muss es akzeptieren, ich muss darüber hinwegkommen. Aber ich will es nicht. Es fühlt sich an wie das Ende. Es erinnert mich daran, dass du nicht eines Tages auf dem Sofa sitzen wirst, wenn ich nach Hause komme, und mich fragst, warum ich so betrübt dreinschaue.
Manchmal, wenn ich meinem Alltag nachgehe, der plötzlich so dunkel und kalt ist, lächele ich und nehme mir vor, dir heute Abend etwas zu erzählen. Vielleicht einen Witz, den ich gerade gehört habe oder von einem Brettspiel, das wir so lange nicht gespielt haben.
Und dann fällt es mir ein.
Da ist niemand, dem ich den Witz erzählen könnte. Niemand, mit dem ich das alte Brettspiel abstauben könnte. Da ist nur das ewige Grau und ich weiß nicht mehr, ob es mein Freund oder mein Feind ist.
Du hast mich alles gelehrt, das wichtig ist. Ich weiß so Vieles und das nur dank dir. Aber all das zerfällt in meinen Händen zu Staub. Welchen Sinn hat all dieses Wissen noch, jetzt da du fort bist? Was nützen mir all die Tapferkeit und die Weisheiten, die du mich gelehrt hast? Ich bin nicht weise, ich war furchtbar naiv. Und ich bin nicht tapfer, denn meine Welt hat ihre Farben verloren und ich weiß nicht, ob ich sie jemals zurückholen kann.
Ich fühle mich wie eine Vase, die man genommen und gegen die Wand geschleudert hat. Ich bin in tausende kleine Scherben zerbrochen, die man nie wieder zusammensetzen kann. Es werden Menschen kommen, die es versuchen. Manche von ihnen werden einen hervorragenden Kleber benutzen, der die Splitter zusammenhalten kann. Aber doch wird die Vase nie so sein wie zuvor, doch wird man immer die Bruchstellen sehen und manche Scherben werden für immer verloren sein.
Aber hier in diesem Moment, in dem ich an all das denke, das ich verloren habe, denke ich auch an deine Worte. Worte, die ich damals für philosophisches Gerede hielt, leere Floskeln, die schön klangen, aber mehr auch nicht. Ich habe nicht nur gelernt, wie naiv ich war. Ich habe noch mehr gelernt. Jetzt in diesem Moment verstehe ich.
Denn ich habe gelernt, dass es keine leeren Floskeln sind.
So oft in den letzten Wochen habe ich gefragt: „Welchen Sinn hat das Leben noch?“
Jetzt denke ich daran, was du immer gesagt hast. Ich spüre die Wahrheit dieser Worte in meinem Herzen. Sie können den Schmerz nicht vertreiben, aber sie hüllen ihn ein wie ein warmer Mantel. Wie du es mit mir getan hast, wenn ich meine Jacke vergessen und dann gefroren habe.
Der Sinn des Lebens ist, dem Leben einen Sinn zu geben.
Das würdest du jetzt sagen, wie du es so oft getan hast.
Mit deinen letzten Atemzügen sahst du mich an, eine Hand an meiner tränenfeuchten Wange. Ich wusste, dass du blind warst, aber ich spürte trotzdem deinen Blick auf mir. Ich wusste, dass du mich in diesem Moment sehen konntest, denn wir brauchen keine Augen, um die Seelen anderer Menschen zu erblicken.
„Denk immer daran“, sagtest du zu mir, deine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „was ich dir gesagt habe. Wir halten das Licht für etwas Selbstverständliches. Aber werden wir das Licht je wertschätzen können, wenn wir nicht einmal die Dunkelheit erfahren haben? Wir hassen den Regen und wünschen uns die Sonne herbei. Aber was nützt uns alles Sonnenlicht, wenn kein Tropfen mehr fällt? Erst nach einem Regenfall werden die Blumen erblühen und erst nach einer finsteren Nacht werden wir das Licht mit dem Lachen empfangen, das ihm gebührt.“
Was würde ich darum geben, diese Worte noch einmal von dir zu hören. Ich habe mich danach gesehnt, noch einmal deine Stimme zu hören, wie du mir diese Weisheit erklärst. Aber ich habe erkannt, dass ich das nicht muss.
Denn ich höre dich. Ich höre deine Stimme, egal was ich tue. Ich höre dich schmunzeln, wenn ich mal wieder etwas Tollpatschiges tue und ich höre dich tröstende Worte sagen, wenn ich mich deswegen ärgere.
Ich weiß, du hattest eine Aufgabe in dieser Welt. Du hast gelernt, was du zu lernen gekommen bist. Du hast getan, was du zu tun gekommen bist. Und dann war deine Seele frei zu gehen.
Mit dir habe ich so viel verloren. Aber ich habe auch etwas bekommen. Denn ich habe gelernt. Ich habe die eine wichtige Sache gelernt, die zu lehren du gekommen bist. Die eine letzte Aufgabe, die du in dieser Welt hattest.
Jeden Tag zu leben, als hätte man ihn dem Tod gestohlen. Als wäre er eine letzte Chance, eine unfassbare Kostbarkeit, die an ein Wunder grenzt.
Ich habe gelernt, dass das hier nicht das Ende ist.
Mit meinen letzten Atemzügen werde ich an dich denken. Vielleicht werde ich blind sein, vielleicht taub. Selbst wenn meine Stimme mir nicht mehr gehorcht, werde ich es sagen. Und wer immer es ist, mit dem ich spreche, wird es auch ohne meine Stimme wissen.
Dass wir das Licht erst in seiner wahren Schönheit begreifen, wenn wir einmal die Dunkelheit erfahren haben. Dass Blumen erst dann erblühen, wenn Regen gefallen ist. Dass wir die Farben unserer Wert erst dann wirklich sehen, wenn sie einmal fort waren.
Dass eine Vase, die einmal zerbrochen ist, nie wieder so sein wird wie zuvor. Aber dass man ihre Scherben nehmen und daraus ein Mosaik legen kann. Das Mosaik eines Vogel, der seine Schwingen erhebt und unsere Herzen hinaus in die Freiheit trägt.
Mit meinen letzten Atemzügen werde ich es sagen.
Wie kostbar und wunderschön es ist, dass wir existieren.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Lilli Hochstadt, 18 Jahre