Als die Menschen fielen

Wettbewerbsbeitrag von Neele Walter, 14 Jahre

Ich schaute hinaus zu der Stadt, die sich am Fuße des Berges wie aus dem Gestein geschlagen entlang zog, zu den Häusern, die die Baumgipfel überragten. Die Bilder aus jenen Tagen erschienen vor meinem inneren Auge und mit ihnen schienen meine alten Knochen die Anstrengungen zu spüren, derer es bedarf, solch eine Stadt aufzubauen.
„Kannst du mir Geschichten von damals erzählen?“, mein Blick glitt zu meinem Enkel, der sich neben mir niedergelassen hatte.
„Ich meine Geschichten von ihr“, führte er seine Bitte weiter aus,und ich glaubte ein kurzes Funkeln in seinen Augen zu sehen, als er von ihr sprach, „Immerhin wart ihr im gleichen Abteil.“
Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen und wieder dachte ich zurück an damals, als sie das erste Mal sprach. Ich saß auf dem Boden der Höhle und trug nichts weiter als meine zerrissenen Lumpen, so wie jeder andere auch, doch in jenem Moment spürte ich die eisige Kälte nicht mehr. 

Sie war besonders.“, ja das war sie wirklich. „Ich bin mit dem Gefühl von Angst und Trauer aufgewachsen, doch in ihren Augen sah ich ein vollkommen neues Gefühl; Hoffnung.“ Ich drehte mich um, lehnte mich gegen die Brüstung und schaute zuerst zu ihm, wie er mich mit diesem neugierigen Blick betrachtete, ich hoffte, er würde diesen niemals verlieren, und dann hinauf zur Decke, die von einer Zeit zeugte, die unfassbar fern schien und doch noch nicht lange her war. Abbildungen grüner Wiesen und steiler Hänge zogen sich neben feinen Ornamenten unzähliger Blumen und Tieren entlang.
                                                                                                         
Sie war kein Genie, das etwas erfand, was die Welt veränderte, aber sie gab eben diesen Genies und Visionären den Raum, sich auszuleben, den Wissenschaftlern den Raum zu forschen, sie gab den Menschen den Raum zu leben. Und mit der Zeit vereinte sie die Abteilungen.“ Ich schüttelte leicht den Kopf, selbst für mich klangen diese Worte zu dick aufgetragen, aber sie entsprachen nun mal der Realität. Ich würde keines der Male vergessen, in denen sie sich schützend vor uns stellte, in denen sie uns neue Hoffnung gab und in denen wir ihr unser volles Vertrauen schenkten, und nicht ein Mal enttäuschte sie uns.

Sie war ein besonderer Mensch, aber sie war wohl auch ein Mensch, den die Zeit hervorgebracht hatte. Die Zeit, in der wir ganz unten standen, in der wir jeden Tag ums Überleben kämpften. „Sie war die Begründerin jener Theorie, um die die Wissenschaftler noch heute rege diskutieren.“
Ich fuhr mit einer Hand über den bröckligen, alten Fenstersims. „Du meinst, die Theorie, dass wir schon einmal Häuser bis über die Baumgipfel, gar bis über die Wolken gebaut haben?“ Er drehte sich um und ging zu dem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes, um sich in eines der Gläser Wasser einzugießen.

Ich nickte. „Und was sah sie als den Grund dafür, dass wir gefallen sind?“, fragte er, nachdem er einen Schluck genommen hatte. Es gab etliche Theorien darüber, wie die Menschen den Fortschritt, den sie eins gehabt haben mussten und den wir nur erahnen konnten, verloren haben. Von Katastrophen wie Meteoriteneinschläge, die uns in die Höhlen drängten, über Konflikte innerhalb der Menschheit, die uns alles nahmen, bis hin zu einer anderen Spezies, die uns verdrängte, fand man jede vorstellbare Möglichkeit. Vielleicht war es auch ein Zusammenspiel aus allen Faktoren, aber wahrscheinlich würden wir es niemals erfahren, genauso wie es unwahrscheinlich schien, dass wir jemals erfahren würden, wie wir einst lebten, denn bisher war das alles nur eine einzige Theorie. „Sie hat sich dazu nie direkt geäußert, aber du kennst doch ihr berühmtestes Zitat, oder?“ Er stellte das Glas wieder ab und kam lächelnd zu mir.

„Natürlich, es steht auf der ersten Seite unseres Schulbuches.“, er genoss kurz die kühle Brise, die die Vorhänge zum Flattern brachte. „Wir dürfen niemals vergessen, wo wir herkommen, sonst werden wir nicht erkennen, wo wir hingehen, und wir werden wieder fallen.“ Ich lauschte, wie er diese Worte zitierte, die mich schon Nächte lang wachgehalten hatten. „Vielleicht ist das ja die Antwort auf diese Frage, auch wenn ich selbst nicht weiß, wie genau ich sie interpretieren sollte.“ Ich lehnte meinen Kopf gegen die Wand und betrachtete das rege Treiben auf den Straßen, wie sie Girlanden aus Blumen zur Feier des Bestehens dieser Stadt aufhängten und gleichzeitig die Bühne aus schwarzen Ebenholz aufbauten, auf der gegen Abend eine Trauerrede zu ihren Ehren gehalten werden würde, die Zwanzigste, seit sie die letzten Zeilen in ihrem Buch geschrieben hatte. „Ja, wahrlich, mit ihren Geschichten könnte man hunderte von Büchern füllen“, flüsterte ich, doch ich wusste, dass er mich hörte.
Die Meisten glaubten, wir hätten den Umbruch schon hinter uns, aber ich war fest davon überzeugt, dass die wahren Kämpfe noch bevorstanden und ich hoffte, wir würden sie gewinnen.

Alle Infos zum Wettbewerb

Die Verwandelbar Sieger:innenehrung

Herzlichen Glückwunsch an die Preisträger:innen!

Teilnahmebedingungen und Datenschutzerklärung

Bitte lesen!

Die Verwandelbar-Jury

Die Jury verwandelt eure Einreichungen zum Schreibwettbewerb in wohlwollende Urteile :-)

Preise

Das gibt es im Schreibwettbewerb "Verwandelbar" zu gewinnen

Einsendungen

Die Beiträge zum Schreibwettbewerb Verwandelbar

Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.