Katzenhai

Wettbewerbsbeitrag von Quirin Schübert, 24 Jahre

Wo sind die ganzen blöden Fische hin“, fragte einer der vier kleinen Jungs plötzlich, als sie den Steg entlang gingen. „Die waren doch vorhin alle noch da!“ Seine Freunde blickten ebenso ratlos ins klare Wasser. Hielten Ausschau nach den geschuppten, schwimmenden Tieren, doch tatsächlich wollte sich nicht ein einziger Fisch mehr im Badesee blicken lassen. Sie sahen sich alle verwirrt an, bis einer von ihnen, eine blaue Badehose mit roten Streifen tragend, langsam und nachdenklich zu sprechen begann:
„Ich bin mir nicht sicher, aber… was, wenn es ein Hai war?“ „Ein Hai?“, fragten die anderen überrascht und zwei der Jungen lachten gar spöttisch auf. „Hat dich dein Papa wieder zu viele Tierdokus ansehen lassen?“ Sie waren alle etwa sieben Jahre alt, vielleicht auch acht, waren heute hier an den See gekommen, zusammen mit Lorenz Mutter. Tim aber schüttelte energisch den Kopf. „Es war ein Hai, ganz sicher. Und nicht nur irgendeiner. Ein Katzenhai. Die sind richtig aggressiv, glaube ich.“ "Kam das im Fernsehen, oder wie?“ „Nein! Das weiß ich. Es war ein Katzenhai, ganz sicher. Die fressen Fische.“ „Alle Haie fressen Fische“, meinte Alfred mit dem üblichen Klang von Besserwisserei in der Stimme. „Stimmt. Aber ein Katzenhai hat ein Muster.“ „Welches? Er frisst in Sekundenschnelle einen ganzen See leer?“ „Unter anderem“, meinte Tim ernst. „Nein, wirklich, die sind gefährlich. Ich glaube… sie können sogar Menschen fressen.“ Ratlose Stille. „Na dann hoffen wir Mal, er hat keinen Hunger, denn ich halt es in dieser Hitze keine Sekunde mehr aus!“, rief Lorenz und vollführte einen prächtigen Hechtsprung – so prächtig er ihn eben vollführen konnte - ins kühle Nass. Johann und Maik folgten ihm sofort, zurück blieben nur Tim und Alfred, starrten gedankenverloren auf die Wasseroberfläche und fühlten sich mindestens doppelt so alt, wie sie eigentlich waren. „Schon seltsam, nicht?“ „Was?“ „Da war ein Hai“, meinte Tim selbstsicher. „Da war ganz bestimmt einer. Ein Katzenhai. Die tun sowas wirklich.“
Alfred schien einen kurzen Moment tatsächlich ernsthaft darüber nachzudenken, worauf sein Freund so beharrte. Die Sonne brannte - wie den ganzen Sommer schon - unbarmherzig auf sie nieder. Da war kein Wind. Es hätte sengend, glühend, höllisch heißen können, wäre da nicht der wundervolle, kühlende See gewesen. Schützend, erfrischend, belebend.
„Dann viel Glück!“, lachte Alfred plötzlich auf und stieß seinen Freund ins Wasser, warf einen prüfenden Blick über die Schulter, ohne genau zu wissen, wonach er eigentlich suchte und sprang hinterher.

Zwischen dem Sonnenaufgang und der Apokalypse lag manchmal nur ein einziges Lied, das wusste Elli Martin nur zu gut und ihrer bescheidenen Meinung nach sogar wohl besser als jeder andere, zumindest hier in ihrer kleinen, so unschuldigen Stadt. Es war dieses eine Lied, dass sie immer noch verfolgte, dass sie an jenem Vormittag rauf- und runtergehört hatte und sie seitdem nie wieder losgeworden war und – so lautete ihre so pessimistische wie realistische Prognose – nie wieder loswerden sollte.
Es war genau hier gewesen, genau hier an diesem See. Acht Jahre, beinahe auf den Tag genau. Nur Wochen, bevor ihr zweiter Sohn, ein kleiner, aufgeweckter und nachdenklicher Junge namens Tim, das Licht der Welt erblickt hatte. Einem Jungen hatte sie in diesem Sommer das Leben geschenkt. Einem anderen hatte sie es damals hier an diesem See genommen.
Es waren nur wenige Augenblicke der Unachtsamkeit gewesen. Nur ein paar Wimpernschläge. Zu viele. Er war aufgeregt gewesen, wie an jedem Tag, wenn sie zusammen zum See geradelt waren. Er hatte in der Sonne gebadet, die saftigen grünen Wiesen genossen, mit kindlicher Freude den Zauber des Sommers in sich aufgenommen. Er hatte diesen See geliebt. Das Nass, die Erfrischung, das Leben, welches dieser herrliche Ort spendete. Doch wie die klare, unscheinbare Oberfläche und das darunterliegende, unergründliche Tief Liebe und Leben spenden konnte, so war sie ebenso nicht darum verlegen, es wieder zu nehmen. Ein Traum, immer nur ein Traum.

Ein Lied, immer nur ein Lied. Warum hast du nicht aufgepasst?
Irgendwann im folgenden Herbst hatte sie einen zweiten Mann in ihrem Leben verloren, denn…
Warum hast du ihn aus den Augen gelassen?  Er war noch viel zu jung gewesen, viel zu…
Du hättest auf ihn achten sollen! Hättest du doch aufgepasst! Das hatte sie. Und doch…
Immer dieses Lied, nur dieses Lied. Der Sturm, aufpeitschende See. Dann Stille, so lange Stille. Wäre da nicht jene Melodie gewesen, die ihr auf Schritt und tritt folgte.
Als Albert, er war, wie sie ganz genau wusste, wohl der vernünftigste der abenteuerlustigen Freunde ihres Sohnes, eben diesen ins Wasser stößt, bleibt Elli ruhig sitzen. Innerlich schreit sie, schreit sich die Seele aus dem Leib, doch nur zwei Augen in tiefen Höhlen, azurblaue Ozeane (oder ist es ein See?) verraten sie. Wie erstarrt verharrt sie auf der Picknickdecke und wartet, bis Tim wieder auftaucht. Wartet. Und der Katzenhai? Was war mit dem Katzenhai, was war, wenn…

Doch natürlich tauchte der Junge auf. Weshalb auch nicht? Weshalb um alles in der Welt auch nicht?
Hektisch, in kurzen Stößen atmend und zitternd am ganzen Leib blickte Elli sich um – keiner der anderen Badegäste schien auch nur irgendetwas bemerkt zu haben. Schon gar nicht das Wunder, dass hier geschehen war. Dem Katzenhai entkommen, dieses Mal. Wieder einmal. Ruhig. Durchatmen, hier, in der Sommersonne. Leben.

Die vergnügten Schreie der Kinder hallten bis zu ihr herüber. Wurden von den umliegenden Bäumen zurückgeworfen. Der ganze See, umrundet vom Wald, kräftiges Grün. Nur mit viel zu viel Mühe kam sie wieder auf die Beine. Sie zitterte immer noch, doch das war okay, mehr als nur okay. Alles ist gut. Waren das nicht die letzten Worte? Nicht ihre. Die letzte Zeile jedoch. Die letzte Liedzeile: Alles war gut.
Vielleicht ein wenig kitschig, dachte Elli. Vielleicht ein wenig passend, antwortete sie sich im Geiste selbst. Sie wandte sich ein wenig von der betrachteten Szene ab, ging hinüber zum Steg, frisch renoviert, sanft ins kühle Nass führend. Ein Lächeln, so wohltuend, zierte ihr Gesicht. Irgendwo in der Nähe, aber ganz weit weg von ihr tauchte ein Katzenhai im See.
Jeder seiner Flossenschläge konnte ein Erdbeben sein, dachte Elli bei sich, während sie ins Wasser glitt. Es schien, als schwebe er nur, doch war es wie fliegen. Loslassen, einfach auf und davon. Als sie den ersten Armschlag tat und hinabtauchte, immer tiefer, konnte sie nicht anders – lächelte erneut. Es schien als schwebe sie nur, doch war es wie fliegen. Jeder Flügelschlag trug sie weiter zurück zu sich selbst. Ein Lied, doch langsam vergessen.
Und als sie sich an den Katzenhai klammerte, ihm durch die Welten folgte, einen Moment der Ewigkeit, durchbrach sie die Stille.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.