Tinnitus

Wettbewerbsbeitrag von Pia Kneiphof, 19 Jahre

Es wummert in meinen Ohren. Die Bahn fährt mit 90 Kilometern die Stunde die Schienen entlang. Regen läuft die Scheiben hinab. Ich bin alleine im Bereich zwischen den Türen. Die Sitzplätze scheinen alle besetzt. Es ist, bis auf ein kleines Kind, ganz still. Ich kann es nicht sehen, aber ich höre ganz deutlich, wie unzufrieden es gerade ist. Aber sonst - sonst ist es still. Die anderen hören dich atmen. Peinlich. Unangenehm. Sie werden denken, du bist unsportlich. Schwach. Ich blicke mich um. Fast jeder trägt Kopfhörer. Fast jeder schaut konzentriert auf sein Handy. Mich nimmt doch niemand wahr, oder? Das möchtest du glauben, nicht? Atme leiser, oder möchtest du die Protagonistin des nächsten viralen Videos werden? Mädchen atmet lauter als Pferd. Wäre schon ein toller Titel. Ich hätte gerade mit Sicherheit Usain Bolt schlagen können. Ich darf laut atmen. Also nicht, dass ich etwas gegen Pferde hätte, aber – atmen Pferde überhaupt laut? Nicht, dass ich Pferden hier gerade unrecht tue. Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich noch nie einem Pferd so nah gekommen, als dass ich das beurteilen könnte. Was atmet denn sonst laut? Ich darf verdammt nochmal laut atmen. Es wird niemanden interessieren. Alle sind beschäftigt. Niemand blickt in meine Richtung. Hör auf. Etwas in mir zieht sich zusammen. Ich spüre wie meine Brust plötzlich nur noch einen Spielraum von Millimetern hat, um sich heben und senken zu können. Ich kann nichts dagegen machen. Ich versuche tiefer zu atmen. Es ist okay. Es ist doch okay. Es ist schon okay.

Ich kann das nicht mehr. Ich hab es irgendwie verlernt. Die Leinwand ist leer. Ich lege den Pinsel auf den kleinen Beistelltisch. Sie wirkt so groß. Ich habe das Gefühl, dass sie mich jeden Moment überfallen könnte. Mich einfach verschlucken würde. Ich kann es einfach nicht mehr. Ich habe dir schon immer gesagt: Du. Solltest. Es. Lassen. Dieses Mal wird es schlecht. Dieses Mal werden sie lachen. Dieses Mal rettet dich nicht etwas wie Glück. Dieses Mal leuchten die Farben nach dem Trocknen nicht schöner als gedacht. Dieses Mal werden die Ränder nicht noch etwas unschärfer als sie es waren. Dieses Mal geht es schief. Was würden nur die anderen denken, wenn sie so ein schlechtes Bild von dir sehen? Der Pinsel wackelt noch sanft hin und her. Als würde er nach mir verlangen. Aber – aber ich kann das nicht mehr. Alles was ich hier tue – Alles was ich tue, ist einfach nicht gut. Du musst doch nicht traurig sein. Es gibt so viele andere Dinge die du tun kannst. Serien schauen, ein Buch lesen, rumsitzen. Es gibt doch noch so viel. An irgendwas wirst du schon Gefallen finden. Ich weiß noch, wie ich früher immer Künstlerin werden wollte. Wie ich malte. Mit was für einer Leidenschaft ich vor dem Papier saß. Wie ich immer das Gefühl hatte zu explodieren, wenn ich malen konnte. Wie ich es liebte, einfach zu experimentieren und so Arten und Weisen des Zeichnens zu erforschen, von denen ich mir sicher war, dass ich die Erste war, die es je so tat. Ich weiß noch, wie ich mir von jeder ausgefallenen Wimper wünschte, Künstlerin zu werden. Irgendwann nur noch von jeder zweiten, zu gerne hätte ich auch einen Hund gehabt. Etwas bleibt in meinem Hals stecken. Ich habe mir gewünscht Künstlerin zu werden. So sehr. Meine Fingernägel graben sich in meine Handflächen. Manche Träume müssen begraben werden, sonst machen sie einen nur kaputt. Nicht alles wird so wie man es sich wünscht. Ich werde niemals Künstlerin. Ich bin dafür nicht gemacht. Der Pinsel liegt nun ganz ruhig da. Ich nehme mir mein Handy, gehe ins Bett, schaue eine Serie. Das ist doch auch ganz nett. Ich bin stolz auf dich.

„Ich kann nicht mitkommen.“ „Wieso denn nicht?“ Ich höre wie enttäuscht mein bester Freund ist. Es zerreißt mir mein Herz. Ich blicke auf mein Handy und starre auf seinen Namen. Nichts ist mehr wie es war. Wenn er es nicht versteht – er ist sowieso nicht gut für dich. „Wir haben die Karten schon so lange. Und ich weiß, wie du dich darauf freust.“ „Ja, aber es ist nicht so einfach.“ „Das akzeptiere ich nicht. Punkt.“ Der Bursche ist aber hartnäckig. „Es tut mir wirklich leid, das musst du mir glauben. Schenk meine Karte einfach irgendwem anders.“ Es tut mir wirklich leid. Nicht unbedingt für ihn, auch für mich. Aber ich weiß, dass ich es nicht kann. Ich kann einfach nichts. „Es ist mir egal. Ich hole dich ab. Trage dich meinetwegen eigenständig dorthin. Was auch immer mit dir gerade los ist, ich lasse es nicht zu.“ Mein Herz schlägt zu schnell. Was soll ich denn noch tun? Sag ihm, du hasst ihn. Sag ihm, dass er dir nichts wert ist. Ich lege auf. Geht’s noch? Ruf ihn an und sag ihm, dass du ihn hasst. Meine Augen brennen, aber keine Träne rollt meine Wange hinab. Das tun sie schon lange nicht mehr.

Ich stehe vorne direkt an der Bühne. Das Metall der Barrikade drückt sich in meinen Brustkorb. Die Hand meines besten Freundes liegt fest in meiner. Mein Körper bebt. Nicht nur durch den dröhnenden Bass, nein. Mein Körper lässt alles los, was er in den letzten Monaten gefangen gehalten hat. Serotonin, Dopamin - mein Körper hat es wiedergefunden und wirft es raus wie die übriggebliebenen Teile vom Winterschlussverkauf. Energie durchfließt meinen Körper. Meine Ohren sind taub. Taub für die Stimme in meinem Kopf. Ich ziehe die stickige Luft tief in meine Lungen. Ich stehe eingepfercht zwischen all den Menschen. Es gibt hier kein Entkommen, aber ich fühle mich so frei wie schon lange nicht mehr. Ich lebe, verdammt ich lebe und ich liebe es.

Es ist dunkel. Die Rollladen sind unten. Vielleicht ist es draußen hell, vielleicht ist es das auch nicht. Ich habe keine Ahnung. Jetzt machst du auch noch allen anderen Probleme. Ich nicke. Hier zu sitzen – schwach. Ich nicke. Lass doch einfach los. Gib die Kontrolle einfach ab. Ich kümmere mich schon um dich. Mach dir keine Gedanken. Ich bin dein Freund. Ich war es schon immer. Ich werde es immer sein. Ich lass dich nicht sitzen. Ich kümmere mich um dich. Ich will so nicht mehr leben. In mir brodelt es. Ich habe keine Ahnung, was mit mir passiert. In meiner Brust spüre ich Enge. Es ist als spürte ich Metall. „DU KOTZT MICH AN. ICH HASSE DICH. ICH. HASSE. DICH.“, schreie ich in die Dunkelheit hinein.

Ich sinke tiefer in den weichen ledernen Sessel. Mein Mund ist trocken. Jeder Muskel in meinem Körper steht unter Spannung. Die Frau vor mir lächelt mich an. Auf dem kleinen Tischchen neben ihr liegt ein Klemmbrett mit einem Kugelschreiber. Was ein Klischee. Ich zittere. Ich will hier raus. Oh Gott, was tue ich hier nur. Meine Hände sind nass. Hat mein Shirt schon Schweißflecken? Warum bist du eigentlich gerade so still? Du hast Angst, dass es dir an den Kragen geht, oder? Ich lasse meine angespannten Schultern fallen. Mein Atem geht flach. Ich bin schon jetzt müde. „Es freut mich dich kennenzulernen. Was bringt dich hier her?“ Ich trete dir in den Arsch, verdammt. Ich trete dir sowas von in den Arsch.

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Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.