Luljeta

Wettbewerbsbeitrag von Elisa Sophia Düker, 16 Jahre

Als ich an jenem Abend nach Hause kam, verspürte ich einen Anflug von Wut. Aggressionen krochen mir an  den Knochen entlang und zermaterten mein Gehirn. Alles, was ich fühlte, war Hass. Aber warum? Diese Frage kann ich bis heute nicht genau beantworten, aber etwas anderes weiß ich ganz genau! Diese Person, die an jenem Abend so schrecklich hasserfüllt und offensichtlich innerlich zerstört wurde, das war nicht ich. Denn ich bin…Ich-oder nicht?
Erstaunlich, wie sich ein Leben von jetzt auf gleich verändert, wie ich mich von jetzt auf gleich verändert habe und dies immer noch tue, weil ich mich vielleicht doch noch immer nicht gefunden habe?

Wo fing es an? Ich denke, es war an dem Tag, an dem mein Papi diese Welt verlassen wollte. Er wollte nicht erleben, wie die Menschen ihren Untergang erlebten, sie sich langsam zu Tode quälten und ersticken im Dunkel der Ungewissheit, die die Zukunft mit sich bringt. Er wollte leben, aber nicht bei mir. Nicht mit mir. Nicht für mich.

„Ich habe noch eine Aufgabe zu erfüllen. Hab keine Angst, du bist voller Leben!“ sagte er und zögerte. Dann flüsterte er „Du bist meine Blume des Lebens“. Damit schloss er die Augen und ich tat es ihm gleich.
Wie ich von dem Baum weggekommen bin und mein Vater weggebracht wurde, weiß ich nicht. Ob er überhaupt jemals beerdigt wurde?

Bis zu dem Augenblick, als ich noch niemals zuvor meinen Geist aus den Augen verloren habe, glaube ich gewusst zu haben, wer ich war. Nämlich das schüchterne, langbeinige Mädchen mit rot-blonden Haaren und einer tiefroten Brille, durch die ich nie hindurch gesehen habe. Vielmehr starrte ich darüber hinweg.

Mit meinen vierzehn Jahren also schnitt ich mir meine langen blonden Haare ab. Es war ein Akt voller Hass. Mein Haar erinnerte mich Tag für Tag an den Tod meines Vaters. Bis heute weiß ich nicht genau, wieso. Immer wieder erschienen Bilder vor meinem inneren Auge, die meine Haare auf dem toten Körper meines Vaters zeigten und nass waren von all den Tränen, die aber nicht von mir kamen.

Meine Haare schloss ich ein. In einer kleinen braunen Schatzkiste, die ich in den Keller meiner Großmutter zwischen Kartons und einer Schallplattensammlung verstaute. Ich konnte sie aus irgendeinem, mir nicht ersichtlichen Grund, nicht wegschmeißen.
Mein Bruder lebte bei meiner Mama. Weil sie immer arbeiten musste und erst am Abend nach Hause kam, ging Tural ihr zur Hand, anstatt mit seinem Studium anzufangen. Er lief hinter mir her, als er sah, was ich mit mir gemacht habe. „Sieh dich doch nur an! Du bist ja krank. Schneidest dir deine Haare raspelkurz und färbst deine Nägel pechschwarz! Du bist 14 Jahre alt und Papas Tod ist ein Jahr her! Krieg dich wieder ein!“ schrie er mich damals an und spuckte mir dabei ins Gesicht.

Ich nahm mir meine Brille ab und putzte die Speicheltropfen ab. Dann hielt ich inne, sah meinem Bruder in sein besorgtes Gesicht, grinste frech und schmiss die rote Brille mit voller Wucht an die Badezimmerwand. Mein Bruder stieß einen genervtes Geräusch aus und verließ das Zimmer. Die Tür knallte und igendwo fiel Staub zwischen den Dielen hindurch.

Die Erinnerungen an die Zeit danach sind verschwommen. Es war, als wäre ich in all diesen Jahren bewusstlos und lebte ein Leben außerhalb dieser Welt. Ich sehe in meinen Erinnerungen diese Person, von der ich nicht will, dass ich sie gewesen sein soll. Es ist mir peinlich und ich schäme mich dafür, dass ich so gewesen bin. Sicher ist das noch eine Schwäche von mir, denn schämen sollte man sich nicht — nicht für sich. Aber war das denn nun Ich? Ich weiß es eben nicht. Vielleicht ist das Schämen aber auch nicht ein Gefühl der Unsicherheit… All die Tiktoker und Influencer, die sagen, „Schäm dich nicht für das, was du bist!“ Was soll der Mist? Man kann sich doch wohl schämen, wenn man offensichtlich eine Seite von sich selbst durchgelassen hat, die für mich und meine Mitmenschen einfach nur ungesund war…

Wie auch immer. In dieser Zeit habe ich also meinen Geist erneut aus den Augen verloren. Er stand zwar neben mir, rief mich. Rief mich in sich zurück, wollte mich zurückhaben, ließ mich nicht aus den Augen. Doch ich versank weiter in meinem imaginären Loch, welches durch Selbstmitleid und Schmerzen und Unzufriedenheit immer größer und immer schwärzer wurde.

Da sind Fetzen. Gedankenfetzen von einem Virus, der die ganze Welt befiel, mich weiter von der Gesellschaft abschottete und mich verkümmern ließ. Fetzen von vor Wut schreienden Lehrern, die sich über mich aufregten. Fetzen von Menschen, die versuchten, mich herauszuziehen. Heraus aus diesem schwarzen Wirbelsturm aus negativen Gefühlen, Schmerzen, schlaflosen Nächten, schrecklichen Menschen, einer zerbrochenen Familie und Tod.

Doch da war noch etwas. Ganz unten im schwarzen Loch war plötzlich Ruhe. Ich stand in dem Auge des Sturms, mit meinem schwarzen Pullover, den lackierten Fingernägeln, den kurzen Haaren und meinem ekligen Gesichtsausdruck. In der Mitte des schwarzen Lochs, ganz unten angekommen, wuchs eine Blume. An ihr hing ein Zettel auf dem in verblasster Tinte geschrieben stand: „Meine Blume. Meine Blume des Lebens. Du, meine Tochter solltest sie finden. Sie ist die Lösung. Finde dich wieder. Ich weiß, du bist wie ich. Du bist empfindsam, aber du trägst mehr Leben in dir als manch anderer. Halte nicht an der Vergangenheit fest. Du trägst deine Blume wieder in dir, von dem Moment an, wenn du sie gepflückt hast. Deswegen heißt du Luljeta - Blume des Lebens.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Elisa Sophia Düker, 16 Jahre