So nah und doch so fern

Wettbewerbsbeitrag von N!Ki, 14 Jahre

Es gibt Zeiten, wo uns das Leben nicht nur einen Stoß verpasst, sondern uns gleich die ganze Treppe runterfliegen lässt.

Mein Sturz ereignete sich am 4. Mai 2021.

Es war ein heller, sonniger Tag. Keine Aussicht auf Regen. Ich schaute in den leicht bewölkten Himmel und dachte an eine ganz bestimmte Person. An dieser Stelle könnte man meinen, in dieser Geschichte geht es um ein junges naives Mädchen, verliebt und leichtsinnig, das die Realität noch nicht begreifen kann. Aber nein. Es geht um jemand anderen. Jemand, der mir extrem wichtig in meinem Leben war. Dieser jemand war meine Oma. Doch gerade befand sich meine Oma auf der Intensivstation. Schon seit Wochen kämpfte sie um das Überleben. Nachts blieb ich lange wach und dachte darüber nach, was alles passieren kann. Und dann geschah es. Ich erinnere mich noch genau. Ich sah meine Mutter im Bad weinen. Und ich wusste, welche Worte sie mir überbringen wird. »Oma ist gestorben.« Ich schüttelte verweigernd den Kopf. Aber es war wahr. Sie war tot. Ich lief in mein Zimmer und knallte die Tür zu. Ich schmiss mich auf mein Bett und bemerkte, wie meine Tränen ungebändigt flossen. Alle Gefühle von vorhin traten wieder auf. Soeben hatte ich einen der wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren. Wir saßen im Auto und fuhren zu meinem Onkel und meiner Tante. Auf der Fahrt redeten wir viel über meine Oma. Mir wurden die Augen geöffnet. Von der erbarmungslosen Realität. Es war das erste Mal, dass ich mich derart schrecklich fühlte. Dass das Leben einem so schlimm und unerträglich vorkommen kann… Ich klingelte und wartete darauf, dass uns die Tür aufgemacht wird. Schleppend stieg ich die Treppen hoch und sah meine Tante mit verweintem Gesicht vor mir stehen. Sie umarmte mich einfach nur. Ich musste wieder anfangen zu weinen. Als ich die Tür zu dem Zimmer meiner Cousine öffnete, sah ich sie alle auf dem Sofa sitzen und weinen. Es zerbrach mir das Herz. Wir alle wussten, dass wir sie nie wieder sehen durften. Nie wieder. Die Zeit würde ohne sie weiterziehen. Sie wird an keinem Geburtstag mehr da sein. Sie wird nie erleben, wie wir erwachsen werden. Wie wir unseren Führerschein machen, unseren Schulabschluss, unser Studium, oder vielleicht irgendwann unsere Hochzeiten. Aber das schlimmste war es, sie nie wieder im Alltag zu sehen. Das waren doch immer die schönsten Momente. Wenn sie nach einem anstrengenden Tag spontan vorbeikam und mit uns Tee trank und Klavier spielte. Nie wieder werden wir sie umarmen können.

»Du kannst die Mail absenden«, sagte ich meiner Cousine. Wir schrieben unseren Lehrern, dass wir an dem heutigen Tag aufgrund eines Trauerfalls in keiner Konferenz sein können. Ein paar schickten Beileidsgrüße zurück. Doch egal, wie lieb es gemeint war, es half uns nicht. Wir setzten uns auf das Sofa und starrten den Fernseher an. Ich fühlte, wie taub mein Gesicht von dem Weinen war. Ich wusste, dass dieser Tag kaum noch schlimmer werden konnte. Aber es kam noch schlimmer. In dem Moment, als die Klingel wieder rasselte und mein Opa mit meinem Vater und seinen Geschwistern die Treppe hochkamen. Sie kamen gerade aus der Kerckhof Klinik. Mein Onkel kam auf uns zu. Er erzählte uns, wie es zu dem schrecklichen Todesfall kam. Meine Oma hatte anscheinend nicht nur Corona, sondern auch eine Lungenentzündung. Und als sie angerufen wurden, sie sollen ins Krankenhaus kommen, wussten die Ärzte schon, dass es zu spät gewesen ist. Sie hätte es schaffen können, wäre sie früher ins Krankenhaus gekommen. Zum Ende hin hatte sie nur noch ein Viertel ihrer Lungenkapazität zur Verfügung. Sie war erstickt. Sie konnte nicht mehr genügend Sauerstoff aufnehmen. Er sagte, dass ihr eine letzte Träne die Wange runtergerollt war, bevor sie starb und sich ihre Augen für immer schlossen. Diese Informationen verbesserten unsere Stimmung nicht. Nein, sie zogen uns nur noch weiter runter. Der Gedanke, sie sei erstickt, brachte mein Herz zum Schlagen. Doch mit der Zeit wurde es nicht besser. Allein der Anblick meines Opas verpasste mir eine Gänsehaut. Er hatte sich komplett schwarz angezogen und weinte so niedergeschlagen und deprimiert. Wir setzten uns alle auf die Couch, hielten die Hand meines Opas und schwiegen. Minute um Minute. 

5.05./6.05.2021

In den nächsten Tagen trafen wir uns alle, um einfach Zeit miteinander zu verbringen und gemeinsam eine würdevolle Trauerfeier mit Beerdigung zu organisieren. Diese Woche war schwer für uns alle. Mein Opa lebte zwischenzeitlich bei meiner Tante, um nicht alleine zu sein. Obwohl es niemand gesagt hatte, wusste ich, dass sich in den letzten Tagen wohl einige, vor allem die Kinder, in den Schlaf geweint haben. Das mitzuerleben, was man nur aus den Nachrichten kannte, war hart. Kürzlich erreichten uns zwei Informationen über die Beerdigung. Erstens: Wir dürfen sie nicht sehen, bevor sie in die Erde gegeben wird. Der Grund? Corona. Zweitens: Sie wurde in eine Plastiktüte gesteckt. Der Grund? Corona. Es machte mich wütend. So eine Beerdigung hatte niemand verdient! Niemand, denn es war unmenschlich.

Gerade in der Zeit, in welcher ich es vermag, mit dem Gedanken des Todes und des Verlustes klarzukommen, musste die Beerdigung wieder kommen. Ich dachte, ich hätte mich ausgeweint, aber schon als ich am Friedhof stand und das große Loch sah, in das der Sarg gelegt werden wird, wusste ich, dass es real war. Nach dem Gottesdienst hielt ich eine Rede. Ich erzählte, wie ich meine Oma gesehen hatte und wer sie für mich war. Ich musste mich konzentrieren, was mir in letzter Zeit immer schwerer fiel. Ich merkte, wie ich langsam in eine depressive Phase abrutschte, doch es war okay. Das dachte ich. Es ist normal. An diesem Tag wurde mir vieles bewusst. Der Tod wählt nicht. Er wählt nicht zwischen guten oder bösen Menschen. Nicht zwischen arm oder reich. Und jeder Moment und jeder einzelne Augenblick, jede Sekunde ist ein Geschenk, denn du weißt nie, was als nächstes geschieht. Der Tod kann erbarmungslos sein. Nicht nur für die Sterbenden, sondern vor allem für die Überlebenden. Und ich hatte Angst. Was wenn ich sie vergessen würde? Wenn ich nicht mehr weiß, wie sie aussieht und wie ihre Stimme klingt? Doch auf mich achtet er nicht. Auf die Trauernden achtet der Tod nicht. Zeit ist wertvoll und Menschen zu verschwenderisch. Jetzt war sie vorbei. Und ich bereute jede Kleinigkeit, die ich in ihrer Gegenwart jemals falsch gemacht hatte. Es war erschreckend, dass so etwas den Tod forderte. Dass man erst so einen Schlag erleiden muss, um die Augen geöffnet zu bekommen, um zu lernen, wie man Dinge und Menschen schätzen muss. Warum brauchte es erst den Tod, um die Wertschätzung und Sehnsucht von Menschen zu entfachen? Dass man erst so einen Schlag erleiden muss, um die Augen geöffnet zu bekommen, um zu lernen, wie man Dinge und Menschen schätzen muss.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: N!Ki, 14 Jahre