Fehler im System

Wettbewerbsbeitrag von Viola G., 20 Jahre

Wenn man einmal glaubt, am Boden zu liegen, ist die Hoffnung, wieder aufzustehen, ziemlich klein. Vertraut mir, ich weiß was es bedeutet, ganz unten angekommen zu sein.

Wenn ich eins gut kann, dann ist es Dinge zu verhauen. Gibt es auch nur die geringste Möglichkeit, etwas falsch zu machen, dann seid euch sicher, bin ich diejenige, die herausfindet wie. Ich mache für gewöhnlich das Unmögliche möglich - aber selten auf die gute Art.

Verdammt. In meinem Kopf stockt es, als die Vorsitzende der Prüfungskommission das endgültige Prüfungsergebnis mitteilt. Durchgefallen. Zum zweiten Mal. Mir stehen die Tränen in den Augen, aber ich reiße mich zusammen, bis ich das Ergebnis schwarz auf weiß bekomme. Die Prüfer nicken mir verhalten zu, ohne dabei auch nur die Miene zu verziehen. In meinen Gedanken macht sich eine rasende Stille breit, als ob sich jemand dazu entschlossen hätte, das Licht auszuknipsen.

Ich gehe, ohne etwas zu sagen, denn jeder einzelne Laut, den ich jetzt von mir geben würde, hätte die Mauer um mich herum zum Einstürzen gebracht. Ein Gehilfe begleitet mich sichtlich betroffen nach draußen. Am Absatz der großen Steintreppe muss ich über die letzten Worte nachdenken. „Wir wünschen Ihnen trotzdem viel Glück für Ihre Zukunft Frau Álva.“ Bei dieser Wortwahl muss ich schnauben, schüttele fassungslos den Kopf.

Glück. Das wünscht man nur denjenigen, die es wirklich nötig haben.

Noch bevor ich den Gedanken richtig zu Ende gedacht habe, fühle ich wie sich dieses Gefühl schlagartig in mir breitmacht. Mir wird schlecht und langsam merke ich, wie die Innenstadt, die sich vor dem Gebäude des Oberlandesgerichts erstreckt, langsam verschwimmt. Erst kullert eine Träne meine Wange hinunter, dann eine zweite. Und bevor das große Schluchzen beginnt, setze ich mich auf die kalte Steinstufe vor mir, um nicht komplett den Verstand zu verlieren.

Ich brauche eine Weile, um mich zu beruhigen. Acht Jahre habe ich gekämpft, nur um am Ende durch das 2. Staatsexamen zu fallen. Das Stechen hinter meinen Augen will nicht aufhören. Wenn ich daran denke, dass ich ohne Freund, ohne Familie und jetzt auch noch ohne Abschluss dastehe, könnte ich platzen. Wenn man genau darüber nachdenkt, ist das Einzige, was ich neben meinem mittelmäßigen Abiturzeugnis vorzuweisen habe, meine Geburtsurkunde.

Du Möchtegern-Besserwisserin hätte meine Mutter jetzt gesagt, ich wusste von Anfang, dass du es zu nichts bringen wirst.

Ich wische mir mit dem Handrücken über die Augen und klopfe den Staub vom marineblauen Hosenabzug ab, bevor ich mich entschließe, mein Schicksal anzunehmen. Die mächtigen Stufen war ich schon oft hinuntergegangen, aber nie hatte es sich so schwer angefühlt. Als würde ich gegen eine Wand laufen. Im Augenwinkel sehe ich, wie sich der Prüfling nach mir jubelnd in die Arme seiner Familie wirft. Er teilt wohl kaum mein Schicksal und als ich ausmache, wer der Glückliche ist, verstehe ich auch warum. Um Ben Ahl herum rankten unzählige Gerüchte. Sein Vater, Politiker, war ein guter Bekannter des Dekans. Das Getuschel um ihn wurde lauter, als man bemerkte, dass er fast nie gesehen wurde, wenn Klausuren geschrieben wurden. Das eine Mal, das er neben mir schrieb, war ich mir fast sicher, dass er es nicht sein konnte. Leider nur fast.

Als Christians Blick meinen streift, sehe ich kurz Panik darin Aufflackern, bevor er den Bruchteil einer Sekunde später wegschaut. Entweder hat er Mitleid oder er erinnert sich daran, dass wir mal zusammengearbeitet haben. In einer anderen Welt hätte ihn ein anderes Ich darauf angesprochen. Auch jetzt brannte mir die Frage unter den Nägeln, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Mächtige Leute schüchterten mich ein.

Und Leute mit einer Familie, die da ist, wenn es wichtig wird.

Weil ich mir das nicht länger ansehen will, mache ich mich auf den Weg zurück. Ich war schon immer das Unglückskind gewesen und so ziemlich jeder war sich darüber einig, dass ich weit weg besser aufgehoben war. Bis auf Abuelo. Mein Opa hatte verstanden, dass man mit etwas Geduld auch andere Seiten von mir zum Vorschein bringen konnte. Leider war er zu früh aus meinem Leben verschwunden, um andere davon zu überzeugen. Er wäre der einzige gewesen, für den ich geblieben wäre, statt an das andere Ende des Landes zu ziehen. Der einzige, mit dem ich jetzt hätte reden wollen.

In meiner Wohnung angekommen schmeiße ich meine Tasche in die Ecke, lege mich auf den Teppich, starre die Decke an.

Alles egal.

Auf dem Tisch neben der Eingangstür lag ein Brief, den ich schon Wochen im Voraus für meine Eltern geschrieben hatte, um ihn heute abzuschicken.

Darüber, dass ich keine Versagerin war.

Dass ich jetzt Anwältin bin und nun das Leben führen würde, das ich mir immer erträumt hatte und ihnen damals nur tosendes Gelächter entlockt hatte.

Ich stand auf und zerriss ihn in zwei Hälften. Jedes einzelne Wort war nichts mehr wert.

Ich brauchte Ablenkung.

Ich wühlte im Wohnzimmerregal und bei der Suche nach etwas, das mir helfen würde, aus meiner Hilflosigkeit zu entfliehen, fand ich Abuelos alte Bücher.

Jedes davon war selbst geschrieben, um seinen Kindern trotz aller Armut etwas zu bieten. Nachdem er spurlos verschwunden war und die Polizei sie als Beweismittel für nutzlos erklärt hatte, hatte ich sie bekommen.
Jetzt war es mein kleines Trostpflaster. Zuletzt hatte ich vor Jahren reingeschaut, aber heute fielen mir zum ersten Mal die zwei leeren Seiten hinter jeder Widmung auf. Für Toni stand dort, weil wir zusammen auch durchs Feuer gehen.

Und wie ich diese Worte las, hörte ich es ganz leise in meinem Kopf - klick.

Noch nie habe ich so panisch nach einem Feuerzeug gesucht. Als ich die Flamme vorsichtig unter der Seite hin und her schwenke kann ich meinen Augen kaum trauen. Wie als Kind, taucht die tiefschwarze Handschrift meines Großvaters auf. Und zum Vorschein kam;

Antonia,
sicher hast du diese Zeilen nicht in deinem hellsten Moment gefunden. Die Tatsache, dass du sie gefunden hast, zeigt dass du etwas besitzt, das all die anderen nicht haben. Seit Jahren gibt es in unserer Familie die Sage, dass eine Gabe von Person zu Person weitergereicht wird. In den letzten Jahrzehnten war es das Schreiben, das mein Abuelo meinem Vater, und mein Vater mir vererbt hatte. Manchmal Gefallen anderen Leuten die Dinge nicht, die man mit seiner Gabe anstellt. Manchmal verändern sich die Gaben mit der Zeit. Deine Mutter sagte immer, dass du dich zu oft in Dingen verrennst. Aber etwas an deinem Verhalten sagte mir, dass mehr dahintersteckte. Du hast nie aufgegeben, egal was passierte. Und vielleicht ist das deine Gabe.

Wenn jemand den Fehler im System finden kann dann du.

Du bist eine Kämpferin, die sich nicht einfach geschlagen gibt. Geh, sieh, was du alles bewirken kannst. Ich werde da sein, wann auch immer du mich brauchst.


Ich blinzle die Tränen weg, die sich beim Lesen in meine Augen verirrt haben. Abuelo hatte recht.

Es war Zeit den Fehler im System zu finden.

Obwohl sich der Tag wie eine Ewigkeit angefühlt hat, war es noch nicht zu spät.

Ich raffe mich auf und stürme hinaus um mich an den Ort zu begeben, der heute schonmal mein Leben auf den Kopf gestellt hat.

Widmung
Für M.K. - weil Kämpfen leichter ist, als aufgeben.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Viola G., 20 Jahre