Schichten

Wettbewerbsbeitrag von Anna-Katharina Kürschner, 25 Jahre

Einmal, es muss Sommer gewesen sein, denn ich hatte ein bunt geschecktes Trägerkleidchen an, aus einem Stoff wie Unterhemd, das Unterhemdkleid habe ich deshalb dazu gesagt, einmal also, da hatte ich plötzlich meinen ersten Wackelzahn. Mit der Zungenspitze und den Fingerspitzen und irgendwann mit der ganzen Hand habe ich daran herum gefuhrwerkt. Erst ließ er sich nur kippeln, links, dann auch in die andere Richtung. Irgendwann konnte ich ihn fast eine ganze Runde herumdrehen. Er hing nur noch an einer Faser meines Zahnfleischs. Das sind ja beinahe 360 Grad, rief mein Vater und machte sich Sorgen, denn ich war sein erstes Kind und das war mein erster Wackelzahn und so hatte er noch nicht viel Erfahrung mit an Kinderfasern hängenden Wackelzähnen. Er machte sich also Sorgen, ich könnte mich daran verschlucken, daran ersticken sogar, darüber hatte er gelesen, deshalb ging er mit mir zum Zahnarzt. Ich erinnere mich nicht, ob der Zahnarzt meinen Vater belustigt anschaute. Dafür erinnere ich mich an den Bananengeschmack des Betäubungszeugs, das der Zahnarzt mir mit Watte, die auf einen Metallspieß gepinnt war, auf das Zahnfleisch drückte. Es schmeckte gelb. Ich wusste da noch nicht, dass alles dieses künstliche Aroma hat, was unbedingt nach Banane schmecken soll. Manche Fruchtjogurts lassen mich heute noch augenblicklich an Zahnarzt denken. Jedenfalls war mein Mund taub und ich fand es lustig, meine Zunge zu bewegen, ohne sie richtig zu spüren. Und dann war sie ganz pelzig, als ob sie gar kein Körperteil von mir wäre. Das Blut habe ich nicht geschmeckt, nur gerochen, als ich meinen Finger an die Zahnlücke presste, obwohl mein Vater sagte: Nicht anfassen, mit den Dreckfingern, da. Aber da war plötzlich eine Zahnlücke, die wollte angefasst werden, dabei habe ich das erst gar nicht gemerkt, dass der Zahn weg war. Der Zahnarzt war mit einer Metallzange in meinen betäubten Mund gegangen und hatte kaum gezogen, ich frage mich, was für ein Geräusch das gemacht haben muss, bubb vielleicht oder so schnick, und schon hatte er den Wackelmilchzahn in der Zange und ich im Mund meine erste Zahnlücke. Mein Vater hat laut gelacht. Wahrscheinlich war er ein bisschen erleichtert, aber auch ein bisschen enttäuscht, weil er sagte, also das hätte er eigentlich auch selbst mit der Rohrzange machen können. Der Arzt lachte auch ein bisschen, schrieb die Rechnung und sagte: 60 Mark, bitte. 60 Mark, wiederholte mein Vater entgeistert, das hätte ich ja wirklich lieber zu Hause gemacht. Diese Geschichte erzählte mein Vater wieder und wieder, bis wir Wort für Wort mitsprechen konnten. 60 Mark, rief mein Vater auch, als die Telefonrechnung kam. 60 Mark lachte meine Mutter, als wir spekulierten, was auf der Rechnung vom Giorgios stehen würde. 60 Mark wurde zu einem geflügelten Wort in unserer Familie, so nannte es mein Vater. Ein Wort mit Flügeln, wie schön, dachte ich da noch, aber dann bekam ich erwachsene Zähne und vergaß die Flügelwörter.

Mein Vater erzählte viel. Er gab den Tieren in unserem Garten Namen. Allen Eichhörnchenkindern in unserem Nussbaum, ich denke, es waren mindestens fünf, gab er Namen mit E. Elfriede, Elsbeth und Emil. Und eines hieß Friedolin, aber es machte für mich keinen Unterschied, dass Friedolin nicht mit E anfängt. Manchmal hat mein Vater sie auch E-Hörnchen genannt, und Friedolin war das F-Hörnchen, aber den Zusammenhang verstand ich damals nicht, und besser, als wir in der Schule das Alphabet lernten.
Friedolin versteckte oft dicke Walnüsse von dem Baum vor unserem Haus, damit er später, wenn es im Winter dann schneite, genügend zu essen hatte. Und damit die Walnüsse sicher waren, vor Elstern und Räubern und vielleicht auch vor Elsbeth und Emil. Aber, und das fand ich schon als Kind beängstigend, manche Dinge werden auch zu sicher versteckt, so dass man sie nicht mehr wieder findet, auch nicht, wenn es schneit und man hungrig ist. Und irgendwann wächst irgendwo ein Nussbaum, wo eigentlich gar kein Nussbaum hingehört. Ich habe es geliebt, Verstecken zu spielen und manchmal habe ich auch Sachen versteckt. Eine Puppe, meinen Lieblingsfilzstift und manchmal eine Geschichte. Und wenn bei uns zu Hause jemand etwas suchte, meine Mutter ihre Laufschuhe oder mein Vater sein Klebeband, obwohl es vor dem Essen noch genau hier oder dort gelegen hatte, und plötzlich war es wie vom Erdboden verschluckt, dann fingen wir an zu sagen: Friedolin war’s, der muss es versteckt haben.

Meine Haare gingen fast bis zum Po und manchmal flochten Prisca und ich Gemeinsam-Zöpfe, die aus meinen dunkelbraunen und ihren blonden Haaren bestanden und die uns unzertrennlich machten, wenn wir abgeholt werden sollten. Wenn im Kindergarten Läuse herumgingen, dauerte es keine Woche, bis es auch bei uns zu Hause nach Alkohol, Essig und Rindenmulchshampoo stank. Meine Haarbürste und die Spangen kamen für drei Tage in die Gefriertruhe und meine Mutter, denn sie hatte bessere Augen, nahm sich jeden Morgen die Zeit, jede einzelne Strähne meines Haares nach Läuseeiern zu durchkämmen.
Beim Lausen, so nannten wir die Prozedur, tat mein Nacken vom Beugen in die unbequemsten Winkel weh und es ziepte, wenn meine Mutter eine Nisse herauszog. Unter dem Baustrahler, der in die Steckdose über dem Spiegel eingesteckt war und dafür sorgte, dass meiner Mutter nichts entging, brannte mir die Kopfhaut. Trotzdem mochte ich unser Kichern, wenn wir uns mit den Affen aus dem Zoo verglichen, von denen wir am Wochenende gelernt hatten, dass für sie das Lausen Nähe und Geborgenheit bedeutete. Nur die Nissen dann aufzuessen, weigerte sich meine Mutter und ich lachte darüber. Manchmal sammelten wir auch Situationen, die jetzt schlimmer wären, als hier zu sitzen. Nudelsalat kotzen zum Beispiel oder Jod Salbe auf aufgeschürften Knien.
Über Wochen war die morgendliche Dreiviertelstunde unter dem Baustrahler meine Zeit mit meiner Mutter. Und dann ging ihr eine Woche vor den Sommerferien die Geduld aus. Die Haare sollten ab. Ich wollte nicht. Ohne meine langen Haare könnte ich keine Zöpfe mehr flechten. Ich zappelte, weinte und schrie. Dann bekam ich eine Ohrfeige auf die linke Wange. Das war das einzige Mal, dass ich von meiner Mutter geschlagen wurde. Einen Moment lang verstummte ich, zu erschrocken, um weiter zu weinen. Dann schrie ich sie an, dass sie mich ruhig weiter schlagen kann, wenn ich dafür meine Haare behalten darf.
Ich bekam einen langen Zopf geflochten, ein Schnitt mit der Küchenschere, dann waren die Haare ab und ich übrig, ich blieb im Bett für den Tag und mied lange jeden Spiegel.
Viele haben mich darauf angesprochen, wo denn meine schönen, langen Haare hin wären. Ich antwortete, was meine kurzhaarige Mutter einhundertmal vorher gesagt hatte, dass es im Sommer so praktischer sei.
Bei manchen Selfies geht es mir so, wenn ich in einem bestimmten Winkel, einem dreiviertel Profil, in die Kamera schaue, blickt mir meine Mutter entgegen und ich wende den Kopf ab. Bald bin ich so alt, wie sie, als sie mich bekam.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Anna-Katharina Kürschner, 25 Jahre