Der besondere Mensch

Wettbewerbsbeitrag von Jan Schlüter, 22 Jahre

Am Bett meiner im Sterben liegenden Großmutter sitzend, ihre sich langsam der lebensfernen Kälte hingebende Hand haltend, in der Tiefe ihrer noch immer vor Leben glänzenden Augen ertrinkend, habe ich sie mit von kalten Tränen getrübten Augen, gefüllt von maßloser alles übertreffender Traurigkeit und von so viel Liebe, dass das kleine in seiner persönlichkeitslosen Ausdruckslosigkeit zusammenschrumpfende Krankenhauszimmer hätte bersten müssen, gefragt, wie es denn sein könne, dass in diesem Augenblick, der mit jedem Ticken der Uhr schwand und die Kälte des anbrandenden Todes die Wärme des schwindenden Lebens verdrängen ließ, die Angst in meinem Herzen so viel größer und furchteinflößender sein konnte als die Angst, die in ihren in sich ruhenden und von keinerlei Trübseligkeit durchzogenen Augen nicht vorhanden war. Wohlwissend, dass die von mir gestellte Frage den langsam im Strand des Nichts versandenden Verstand meiner sterbenden Großmutter noch erreicht hatte, musste ich an der Enge des schrumpfenden Zimmers, aus dem spürbar Sandkorn um Sandkorn das Leben und somit für mich die Luft zum Atmen wich, erstickend, lange auf eine Antwort warten, die, begleitet von einem letzten sanften Händedruck meiner Großmutter das Zimmer betrat und anstatt meine letzte Frage zu beantworten nur noch mehr Fragen in den Raum warf.

„Die Kerzen sind entzündet. Lass sie fliegen“. Jedes Wort schien einzeln in den Raum zu schweben, kurz in der konsistenzlosen Luft hängend, um dann wie eine bleierne Last auf mein von Trauer belastetes Herz zu fallen. Noch Tage, nachdem ich die kalte und vom Leben endgültig verlassene Hand meiner Großmutter ein letztes Mal gedrückt, mir den Schmerz des schwer lastenden Abschieds aus den Augen gewischt, die Seele meiner Großmutter mit einem letzten Kuss auf die Stirn für immer von dieser Welt entlassen und weinend und innerlich zerbrechend das Krankenhaus verlassen hatte, waren es noch immer diese Worte, die mich auszufüllen, zu Boden zu drücken und innerlich zu zerreißen schienen. Erst bei der Beerdigung, die in einer alten und in einer der Hässlichkeit des Todes widersprechenden Schönheit dekorierten Kirche stattfand, nahmen die bis dahin leeren Worte Form. Geduckt und ausdruckslos, die Trauer mit Gedankenleere so gut es ging kompensierend, in der letzten Reihe, fernab von den Gesprächen der anderen Menschen sitzend, beobachtete ich die Gäste, wie sie einer nach dem anderen eine einzelne Kerze, die zuvor einsam in der Masse ihres Wachses zu ertrinken drohte, an einer bereits brennenden Kerze entzündeten. Sich der flackernden Flamme und der lebendigen Wärme hingebend, erstrahlte die zuvor einsame Kerze in strahlendem Licht und trug die Wärme und das Leben der anderen Kerze weiter. Und plötzlich, vom Beobachten dieser Prozedur inspiriert, skizzierte mein von neuem Leben befruchteter Verstand ein Bild, das mit jedem Gedanken von einer blassen Skizze zu einem von Leben erfüllten Gemälde wurde.

Meine Gedanken verließen die vom flackerten Kerzenlicht gefüllte Kirche, drifteten ab und fanden sich in einer Erinnerung an meine Großmutter wieder, von der ich gedacht hatte, sie fast im Strudel der vergangenen Momente verloren zu haben. Im Bett liegend, die Decke bis zum Kinn gezogen und ab und zu an der dampfenden heißen Schokolade mit viel zu viel Kakao auf dem Nachtisch nippend, beobachtete ich meine Großmutter, wie sie eine Geschichte erzählte. Das hatte sie damals - in einer nun vergangenen aber nicht vergessenen Zeit - jeden Abend gemacht, ich hatte sie mit großen runden Augen angebettelt und sie hatte - nicht in der Lage, meinem flehenden Blick zu widerstehen - immer neue Geschichten von liebevollen Monstern, arglistigen Bösewichten und abstrakten Dinge wie Liebe, Fürsorge und Freiheit aus der Welt der Fantasie in das kleine Schlafzimmer gesetzt. Später, als ihr wacher Verstand langsam von der schleichenden Demenz untergraben wurde, war es dann meine Aufgabe, ihr diese Geschichten zu erzählen.

Hatte früher noch ich im Bett gelegen, gefesselt von der bloßen Macht ihrer Worte, und zu ihren wachen Augen und der großen runden auf der Nasenspitze balancierenden Brille aufgesehen, war es nun sie, die mit hochgezogener Decke zu mir aufschauend im Bett lag und lauschte, wie die Gestalten der von mir erfundenen Geschichten durch das kleine Zimmer schwebten. Wie ein Kind lächelnd hatte sie mir dann von den unter der Decke fliegenden Möwen berichtet, deren - von majestätischen Flügelschlägen getragene - Freiheit sich in großen Kreisen durch den Raum zog. Ich hatte diese Bilder immer als unklares Produkt ihres schwindenden halluzinierenden Verstandes abgetan und mir die klaren und faszinierenden Bilder ihrer längst vergangenen Geschichten zurückgewünscht. Doch nun, inspiriert von dem sich verbreitenden und nie vergehenden Lichts der flammenden Kerzen inspiriert, war mir etwas klar geworden, was mir schon viel früher hätte klar werden müssen. All die Geschichten, die Gestalten und die Ideen, die aus meinem Kopf den Verstand meiner Großmutter erreicht und ihrem zerfurchten Gesicht den Ansatz eines Lächelns entlockt hatten, wären niemals so verzaubernd und hoffnungsspendend gewesen, hätte meine Großmutter sie nicht früher selbst in meinem Kopf angepflanzt. Ihre Geschichten waren die Samen gewesen, die meiner eigenen Fantasie später die Möglichkeit gaben, sich auszuweiten und nach und nach zu einem eigenen Baum heranzuwachsen, an dessen Ästen Knospen sprießen konnten, die anderen Menschen Hoffnung und Freude schenkten. Eine Kerze, die gebrannt hat, kann erlischen, doch das Feuer, das sie an andere weitergegeben hat, wird in Ewigkeit brennen. Während ich noch immer in der letzten Reihe der Kirchenbänke sitze und die mir fremden Menschen beobachte, die an bereits brennenden Kerzen ihre eigene anzünden und sich somit ihr neues, kleines Licht dem großen Lichtermeer der vielen anderen Lichter anschließt, begreife ich, dass meine Großmutter eine brennende Kerze war, deren Licht, zum Ausdruck gebracht in vor Leben glühenden Geschichten, in faszinierenden Gestalten und auch in einem kindlichen Lächeln, umso heller gebrannt hat.

Und auch wenn dieses Licht nun auf den ersten Blick erloschen sein mag, so wird es in den Herzen geliebter Menschen, in Menschen wie mir, weiter brennen. Meine Großmutter mag gestorben sein, doch sie ist nicht weg, sie ist noch hier, sie wird in den Herzen und Erinnerungen anderer Menschen weiterleben und niemals vergessen werden. Ein funkelndes Licht, eine nie endende Wärme, eine wunderschöne Kerze, deren Anblick einen geliebten Menschen immer ein Lächeln entlocken wird. Ich stehe auf und gehe, von einer vergessen geglaubten Leichtigkeit beflügelt, zu den Kerzen hinüber, nehme eine der kalten, lichtlosen Kerzen und entzünde sie an einer warmen, leuchtenden Flamme. Während die Flamme auflodert und das strahlende Licht der vielen anderen Kerzen noch strahlender macht, flüstere ich „Die Möwen werden immer fliegen“ und verlasse mit einem Gefühl des Glücks und der nie endenden Hoffnung die Kirche. Draußen richte ich meinen Blick zum Himmel, und während ich der strahlenden Sonne entgegen blinzel, kann ich sie dort oben mit majestätischen Flügelschlägen kreisen sehen: Die Möwen fliegen.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.