Pflasterweise Trost

Wettbewerbsbeitrag von Jan A.P. Müller, 22 Jahre

Nervös trampelte Fiona auf der Stelle. Sie zog ihren Kopf in die warme Geborgenheit eines großen Schals ein. Der Sommer war längst vergangen, ein eisiger Wind wehte, der den herannahenden Winter ankündigte. Sie hatte ihn schon länger nicht mehr besucht. Manchmal telefonierten sie. „Hallo, wie geht’s? Gutgut. Ja, Uni läuft. Ok. Tschüss.“ Fast schon gierig sog sie an einer Zigarette, um der aufkeimenden Panik Herrin zu werden. Die Nachmittagssonne schien ihr ins Gesicht und hüllte alles in einen goldenen Schein. Normalerweise genoss sie solche Tage, grinste die Sonne an, so als wollte sie ihr alle Wärme zurückgeben. Doch dieser Tag war anders. Nicht zum Grinsen. Sie trat ihre Zigarette aus. Für einen Außenstehenden muss sie wie ein Delinquent auf dem Weg zum Schafott ausgesehen haben, als sie zögerlich zur Haustür ging und klingelte. Ein Mann öffnete. Er trug einen einfachen, leicht fleckigen Hausanzug. Bartstoppeln. Fahne.
„Ja?“
„Hallo Papa“, sagte sie.
„Hallo.“
„Kann ich rein?“
Er machte den Weg frei. Auf dem Wohnzimmertisch stand eine Flasche Whisky.
„Papa, ich will mit dir sprechen.“
„Über was?“, fragte er.
„Damals.“ Sie musste es ansprechen, das würde ihr bei ihrer Therapie helfen, hatte der Professor gesagt.
„Kannst du das nicht wenigstens an ihrem Todestag ruhen lassen? Da gibt es nichts mehr zu besprechen.“ Er goss sich ein.
„Liebst du mich?“, versuchte sie es anders.
Er guckte wortlos aus dem Fester. Er vermied sie. Wie immer.
„Warum liebst du mich nicht?“ Vor Anspannung war ihre Stimme gepresst. Rasch wischte sie sich eine Träne von der Wange. Sie fühlte sich wie eine trotzige Zehnjährige.
„Ich kann nicht.“, flüsterte er heiser: „Du bist schuld an ihrem Tod.“
„Wie kannst du sowas sagen? Ich war noch ein Kind! Ein Kind!“ Sie erinnerte sich an die Wärme, die ihr Professor Bender entgegengebracht hatte; eine Wärme, die sie damals für sich nicht übrig hatte. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich selbst in Schutz nehmen. Doch dennoch, Papas Worte brannten wie eine Ohrfeige und stachen dort, wo sie verwundet war. Innerlich nahm sie ihr zehnjähriges Selbst in den Arm. So gut sie es eben vermochte.
„Wärst du doch bloß nicht ins Wasser gefallen! Hättest du nur auf sie gehört! Ich hab‘ sie so geliebt!“ Seine Stimme überschlug sich.
„Ich habe sie doch auch geliebt!“, schrie sie zurück.
Er wandte sich von ihr ab und hob abweisend die Hände.
„Warum kannst du mir nicht in die Augen sehen? Warum konntest du nicht für mich da sein? Ich habe dich gebraucht!“
„Ich weiß“, sagte er. „Aber es war leichter so.“
„Mich zu verachten für das, was ich getan habe?“, fragte sie.
„Ja.“
„Aber ich habe nichts getan. Ich war ein Kind. Ich habe gespielt und dann -“
„Ich weiß.“
„Ich habe so gelitten. Ich habe mich gehasst! Du hast mich gehasst. Du hattest keine Wärme mehr für mich.“ Sie baute sich vor ihm auf.
„Ich weiß“, wimmerte er zusammengekauert.
„Und deshalb kannst du mir bis heute nicht in die Augen sehen. Weil du nur an dich gedacht hast und wusstest, dass du falsch lagst?“
Unvermittelt fuhr er auf und schlug ihr ins Gesicht. Für einen kurzen Augenblick schien die Zeit stehen zu bleiben. Ihr Kiefer klapperte als er sie traf. „Vorsicht“, fuhr er sie an, „pass auf, was du sagst!“ Whiskyatem. Speicheltropfen. Sie war perplex und wusste, dass sie mit ihrer Einschätzung ins Schwarze getroffen hatte. Mit Menschen verhielt es sich nicht anders als mit wilden Tieren. In die Ecke gedrängt kratzen und beißen sie.
Es vergingen einige Minuten, ohne dass ein Wort gesagt wurde. In der Stille schien der Schlag unendlich widerzuhallen. In ihm schienen Wut, Trauer und Scham zu gären.
„Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe“, sagte er zerknirscht. Seine Worte durchbrachen die Stille.
Draußen beobachtete Fiona, wie sich ein paar Vögel um einen Meisenknödel stritten. Mama hatte Vögel immer gemocht.
„Ich habe dich im Stich gelassen. Du hättest mich gebraucht. Nach ihrem Tod.“
„Ja. Das hätte ich“, sagte sie. „Weißt du, dass ich in der Psychiatrie war?“
„Nein.“ Verwunderung sprach aus seinem Gesicht.
„Papa, ich habe Drogen genommen.“ Fassungslosigkeit. „Ich konnte nicht mit mir leben. Ich habe mich gehasst. Ich habe mich, seit Mama gestorben ist, schuldig gefühlt. Ich habe mir Vorwürfe gemacht. Und weißt du, wer mir auch Vorwürfe gemacht hat? Du. Mit dem Stoff konnte ich mich wenigstens ein bisschen ertragen.“ Angespannt lauerte sie auf die Regungen in dem Gesicht ihres Vaters, als sie fortfuhr. „Ich habe Mama gespürt, im Wasser. Sie war da. Sie wollte mich retten.“ Sie konzentrierte sich auf den Boden, auf dem sie stand, vergewisserte sich, dass sie hier war und nicht dort. Professor Bender hatte mit ihr geübt, nicht in die Flashbacks zu driften. „Sie war da, doch ich habe nur getreten und geschlagen. Ich habe nicht klar gedacht. Ich war so in Panik. Du hattest Recht. Immer Recht. Ich habe sie getötet, damals im Wasser.“
Zunächst waren es keine Worte, die ihm entfuhren, eher ein heiseres Geräusch, das eines Mannes, dessen Welt in Scherben vor ihm lag. „Also doch. Aber ich habe es nicht geahnt. Nicht so.“
„Ich habe Alkohol getrunken, Schmerzpflaster geklebt, Tag für Tag, wann immer es nicht zum Aushalten war, Hauptsache wegtreten. Ich war bei mehreren Ärzten. Die, die nicht so genau gucken. Fentanyl, zack, Trost. Anders hätte ich es nicht ertragen, mit mir und meiner Schuld allein zu sein.“
„Oh Gott.“
„Dann wäre ich fast gestorben. Der ganze scheiß Alkohol und die Pflaster hätten mich fast umgebracht. Ich habe nicht mehr geatmet! Fuck, ich hatte eine Opioid-Vergiftung!“
Er vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte. „Geh.“
„Nein“, sagte sie entschlossen.
„Ach, lass mich doch bitte in Ruhe.“ Flehend blickte er sie an: „Du erinnerst mich zu sehr an sie.“
„Nein. Halte mich aus. Einmal in deinem Leben musst du mich ertragen. Du kannst dich nicht drücken, darfst dich nicht drücken. Du bist mein Vater!“
Verwirrt schaute er sie an. Konnte es sein, dass ein Mensch von einem Augenblick auf den anderen anders aussah? Verwandelt war? Ihm war klar geworden, was er getan hatte. Er hatte es ignoriert, so gut es ging, doch nun war kein Abwenden des Blickes mehr möglich. Das, was es aushaltbar gemacht hatte, hatte sie beinah zerdrückt und sie zwang ihn, es zu sehen. So viel Leid aus einer Kette an schrecklichen Zufällen, zu schwer, um eines Einzelnen Bürde zu sein.
Hadern. Zögern. Eine Bürde für Zwei.
„Es tut mir so leid, Fiona“ Unvermittelt, zögernd legte er sich ihre Hand an die Stirn, wie ein bußfertiger Sünder. „Ich habe so viel falsch gemacht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich fühle mich so schuldig.“
„Wie ich“, sagte sie grimmig. Ihre Stirn war von Sorgenfalten tief zerfurcht.
„Kannst du mir vergeben?“, fragte er in der Hoffnung, das Erlösung versprechende Ja zu hören.
Eine Ewigkeit verging in Sekunden.
„Zumindest nicht sofort.“
Die Sonne kam hervor und schien Fiona golden ins Gesicht. Normalerweise genoss sie solche Tage. Ihre Züge entspannten sich etwas und ihre Mundwinkel hoben sich leicht. Kein Grinsen, aber Hoffnung.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Jan A.P. Müller, 22 Jahre