Zwei Fremde

Wettbewerbsbeitrag von Kaspar Reynard, 19 Jahre

Dumpf schlugen die Wellen an die Pfeiler des langen Steges, der sich lang in das Meer hineinstreckte.
„Und, weshalb trauerst du?“, fragte eine Stimme den Fremden.
„Ich habe dich nicht kommen hören“, antwortete der Fremde, der ganz vorne an dem Geländer stand und in die Leere der See starrte. Tränen liefen ihm lautlos über die Stirn und versickerten in seinem Schal, der Mantel bauschte sich durch die Windstöße auf.
„Ich,“ fuhr der Fremde fort, als ihm die Stimme nicht antwortete. „Ich trauere um die Vergangenheit.“
„Die Vergangenheit? Das ist wahrlich ein großes Stück, dann wird die Trauer ja immer gewaltiger!“ antwortete die Stimme lächelnd von der Seite.
„Ich trauere darum, dass sie abgeschlossen ist.“
Die Augen des Fremden waren rot angelaufen, der Ton seiner Stimme klang verschnieft. Er musste sich mehrmals schnäuzen, um überhaupt richtig sprechen zu können.
Hätte sich der Fremde umgedreht und zurückgeschaut, dann wären ihm all die kleinen Menschengruppen aufgefallen, die am windigen Strand entlangflanierten, und manchmal ein wenig in den Steg hineinliefen, ohne aber je richtig in seine Nähe zu kommen.
„Abgeschlossen? Ach, das ist so ein vorbelastetes Wort! Nie können alle fröhlichen Zeiten vorbei und alle Menschen hinter dem Vorhang des Jetzt in das Gestern getreten sein!“ gab die Stimme aufmunternd zu bedenken.
Der Fremde schüttelte nur mit dem Kopf.
„Das Wichtigste ist fort. Nur ein Häufchen Elend ist übrig, was soll man da schon anderes tun als trauern?“
„So vieles! Es gibt Neues zu entdecken, so viel zu erfahren. Das ist doch nur ein Aufbruch in das Neue!“
„Ich wollte nie aufbrechen.“ Die Stimme des Fremden klang dumpf.
„Vielleicht bist du deswegen jetzt alleine.“ Stellte die Stimme mitfühlend fest.
„Vielleicht, ich weiß es nicht.“
„Aber du kannst dich doch nicht ewig aufhalten lassen, du musst doch weitergehen!“
Der Fremde deutete nach vorne in die Wellen. „Unmöglich.“
„Unmöglich? Versuch es doch!“
„Ich kann nicht.“
„Sicher kannst du, ich glaube daran!“
Der Fremde schüttelte bitter seinen Kopf. „Selbst wenn ich wollte, wie könnte ich? Es geht nicht mehr weiter.“
„Probiere es!“, flüsterte die Stimme vom Wind verweht.
Der Fremde war allein.
Mit tränenverschmierter Sicht betrachtete er die kleine Leiter, die vom Steg gradewegs ins weite Meer führte. Wellen verschluckten immer und immer wieder die untersten Sprossen und ließen sie glucksend wieder frei. Hinten am Horizont türmten sich dunkle Wolken auf, die Sonne war verschwunden. Der Wind würde sie früher oder später hertreiben.
„Warum stehe ich hier?“, fragte der Fremde mit trauriger Stimme und gab sich selbst die Antwort.
„Weil alles anders kam.“
Träge tat er einen Schritt nach vorne.

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Autorin / Autor: Kaspar Reynard, 19 Jahre