Vom Kind und der Küchenschabe

Wettbewerbsbeitrag von Laurine Heilig, 21 Jahre

Es lebte eine Familie in einem Reihenhaus mitten in einer vielbeschäftigten Straße. Darin sorgte ein alleinerziehender Vater für seine zwei Kinder. Davon war eines schon groß und ging zur Schule. Das andere konnte gerade erst krabbeln und blieb den lieben langen Tag zu Hause und spielte, während der Vater im Homeoffice auf einen Kitaplatz wartete. Alleine wurde dem Kind aber nicht langweilig. Es traf sich nämlich so, dass gerade hinter dem Schrank im Kinderzimmer eine nette Küchenschabe wohnte. Die war dem Kind ein guter Freund und blieb gerne bei ihm. Stundenlang konnten die beiden aufeinander herumhüpfen und um die Wette krabbeln. Normalerweise war die Schabe die schnellere von beiden. Das war aber nur, weil sie sechs Beine statt der vier hatte. Darum ließ sie sich manchmal zurückfallen, sodass das Kind vorneliegen musste.
Auch war das Kind sehr verständig und hatte bald die Schabensprache gelernt. Sie zirpten und fauchten gemeinsam und kringelten sich vor Lachen, wenn der Vater über ihre Musik verständnislos den Kopf schüttelte. Nach jeder Mahlzeit brachte das Kind der Schabe einen guten Löffel an Leckereien mit. Manchmal sogar feucht fauliges Obst. Das mochte die Schabe am liebsten. Ihrer Meinung nach hätte das sorglose Leben ewig so weitergehen können, doch es begab sich, dass das Kind, noch bevor die menschlichen Worte sein Eigen waren, seinem großen Geschwisterchen den lieben Freund zeigen wollte. Es legte einen Klecks eingemachte Kirschen auf den Boden und krabbelte so schnell seine vier Stummelbeinchen es tragen konnten hinüber, um es zu holen. Das große Kind kam auch tatsächlich, war aber nicht erfreut, sondern über alle Maße entsetzt, als es die Schabe auf dem Boden sah. Es schrie aus Leibeskräften nach dem Vater, der nur Sekunden später kopflos ins Zimmer gestürzt kam. Die Schabe war längst hinter den Schrank geflohen und hörte das Geschwisterchen von einem Monster mit gezackten Beinen und einem hässlichen braunen Panzer reden. Dabei wurde sie ganz betrübt, auch als sie das Weinen des Kindes vernahm. Der Vater seufzte und schnaubte, schob aber schließlich den Kinderschrank zur Seite und fand die vielen, vielen Vorräte der Schabe, die sie feinsäuberlich auf dem Boden aufgereiht hatte.
Erst später, als das Kinderzimmer in Stille dalag, konnte die Schabe den Schaden beurteilen, den der Vater hinterlassen hatte. Der Boden glänzte blitzeblank und roch nach Badreiniger, den der Vater ohne je das Etikett gelesen zu haben für alle Flächen nutzte. „Das ganze Essen umsonst.“, zischte das Kind in der Schabensprache. Es hatte sich leise vor das Bett gesetzt und sah zum Schrank hinüber. „Du hast nicht verstanden, dass du mich in Gefahr gebracht hast, deshalb wollen wir es vergessen.“, sagte die Schabe und rückte ein Stück näher. „Du darfst aber nie mehr jemandem von mir erzählen, sonst muss ich um mein Leben fürchten und mich verstecken.“ Das Kind war dazu bereit und es war fast, als wäre der Schrecken wirklich vergessen. Wenn das Kind nun bei Tisch aber einen Löffel Gemüse zur Seite legen wollte, hatte der Vater es schon gesehen und schimpfte. So blieben die Portionen aus. Die Schabe dachte sich nichts weiter dabei, sondern lief selbst durch das Haus und fand noch genug. Das Kind aber, das mehr und mehr Worte der menschlichen Sprache lernte, verstand, was die anderen über die Freundin sagten, und begann zu glauben, was sie sagten. Auch sahen sie sich kaum, weil das Kind am Tag nun im Kindergarten war und mit neuen, großen und schönen Menschenkindern spielte, die sich Freunde nannten. Die gute Schabe aber sang das Kind unbemerkt in den Schlaf und erzählte ihm Geschichten aus der Welt der Kleinen. Erst als das Kind eines Morgens entsetzt aufschrie und nach ihr schlug, begann sie zu verstehen, wie schnell Verwandlung vor sich gehen kann. Seitdem geht sie ihrem Tagewerk nach, wenn alle Menschen fest eingeschlafen sind.
Und die Moral von der Geschicht: Traue kleinen Kindern nicht.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Laurine Heilig, 21 Jahre