Der Mut Zum Ernstlich Träumen

Wettbewerbsbeitrag von Hanna M. C. Pfannes, 18 Jahre

15. September 2531

»Ich schlafe schlecht. Häufig finde ich die halbe Nacht keine Ruhe und wenn ich dann schlafe, träume ich diffuses, wirres Zeug. Ich fühle mich stumpf, unvollständig, kann mich nicht mehr konzentrieren und habe das permanente Gefühl, etwas ändern zu müssen.« Sie atmete heftig aus und unterbrach die Bewegung, mit der sie den Bleistift in ihrer Hand um ihre Finger wandern ließ.
Ich musterte die junge Frau vor mir. Sie hatte sich die glatten, schwarzen Haare hinter das Ohr gestrichen und hielt den Blick auf den Tisch gerichtet, während sie sprach. Einen Augenblick lang überlegte ich.
»Was beschäftigt sie, wenn sie nicht schlafen können?«, erkundigte ich mich.
Ein wenig aufgewühlt huschten ihre Augen auf der Tischplatte hin und her. Sie grub ihre Finger in die Unterarme und schaute, um meinen Blick noch für eine Weile auszuweichen, aus dem mit Neonlicht gerahmten Fenster in den Nachthimmel.
»Ich weiß nicht. Es ist das Gefühl, einfach nicht vorwärts zu kommen, glaube ich.«
Sie schluckte und hielt den Blick noch für einen Moment aus dem Fenster gerichtet, dann sah sie mich doch an. Es lag etwas direktes, trotziges in ihrem Blick, beinahe herausfordernd.
»Sind es Zukunftsängste? Sind sie sich noch im Unklaren, was sie tun wollen, jetzt wo sie die Schule beendet haben?«, fragte ich mit einem Blick auf ihre Unterlagen.
»Nein«, sagte sie bitter. »Nein, es ist vielmehr, dass ich weiß, was ich tun will. Ich möchte etwas aus meinem Leben machen. Etwas von Wert schaffen. Das heißt nicht, das ich davon träume Multimilliardär zu werden oder so etwas…«, bemerkte sie scheinheilig auf meinen Blick hin. »Nein, Geld ist mir dabei eigentlich egal, darum geht es überhaupt nicht. Es geht auch nicht darum, etwas zu schaffen, was gleich die gesamte Menschheit vom Hocker wirft, sondern etwas von Wert für mich. Auf das ich am Ende stolz sein kann.«
Sie atmete tief durch.
»Im Grunde glaube ich ja, dass ich es schaffen kann. Irgendetwas in mir tut das zumindest. Ich möchte tun können, was ich tun will und ich glaube, ich könnte das auch. Soweit so gut.« Sie stieß mit geschlossenen Augen die Luft aus.
Ich dachte ein paar Sekunden lang nach. Dann ein paar Minuten. Bis ich eine Viertelstunde nachgedacht hatte und mein gesamtes Gehirn mit philosophischen Fetzen über können und nicht können gefüllt war. Schließlich versuchte ich das Knäuel auf dem Punkt zu bringen. 
»Wo liegt dann das Problem?«, fragte ich.
Sie lachte leise. »Nun ja, dass frage ich mich auch häufiger. Vielleicht, weil die reale Welt immer ein wenig anders ist, als in der Theorie der Gedankengänge. Oder sie ist es eben nicht und man hält sich durch die Angst, dass es so sein könnte, nur auf. Ein Paradoxon, das einen wirklich in den Wahnsinn treiben kann. Vor allem aber bin ich ein sehr unsicherer Mensch. Zumindest in gewisser Weise.«
Ich fuhr mir mit der Hand über die Bartstoppeln. »Einen Moment. Konkret, wovon genau sprechen wir hier?«
Sie erwiderte das Lächeln zögerlich. »Nun ja, ich arbeite seit zwei Jahren an einer Geschichte. Nicht an einer, an meiner«, fügte sie hinzu und ich konnte das Leuchten in ihren Augen bei diesen Worten sehen. Sie war bereits stolz darauf. »Ich habe mir eine Realität erschaffen, in der ich existieren kann. Und ich möchte sie verwirklichen, in welcher Form auch immer.
Gedanklich spiele ich hin und wieder damit, später entweder Richtung Autor oder Film zu gehen. Das ist kein leichtes Feld, ich weiß, aber das stört mich eigentlich nicht. Wahrscheinlich wird es schwierige Phasen und mehr Krisen als Erfolge geben, aber damit werde ich zurechtkommen, wenn es soweit ist. Und alle Leute sagen immer hochtrabend, bis man damit überhaupt irgendwo ankommt, ist eine ganze Menge Arbeit und Fleiß nötig, aber ich denke, wenn ich etwas wirklich möchte, – und in diesem Fall ist das so – dann kann ich daran arbeiten bis ich umfalle, einfach weil ich liebe, was ich tue. Und dass man damit doch irgendwie weiterkommt haben ja schon die verschiedensten Leute bewiesen.«
»An wen denken sie da?«
»Ich persönlich? An Diana Gabaldon, Albert Einstein, John Williams und George Lucas«, sagte sie mit einem frechen Grinsen. Sie hob das Kinn ein wenig, schmal aber stur. 
»Aber um wieder zu mir zurückzukommen«, fuhr sie fort. »Ich brauche nicht den Welterfolg, den all diese Personen hatten. Alles was ich möchte, ist, wie sie etwas zu schaffen, auf das ich am Ende stolz bin, weil das Ergebnis meinen ganz persönlichen Anforderungen entspricht. Und es ist mir egal wie schwer der Weg dorthin ist. 
Was mich daran hindert, diesen Weg einzuschlagen, ist, dass viele Menschen um mich herum mich behandeln wie eine Träumerin, die zuerst optimistisch ihrem Traum folgt und dann irgendwann abstürzt, weil sie keine Arbeit mehr findet und ihr gesamtes Leben bereut, wie der Großteil der Menschen, die es versucht haben. Dabei glaube ich, dass der Anteil der Menschen, der es tatsächlich bereut, sich gerade diese Angst hat einreden lassen und dass genau dieser Umstand sie blockiert. 
Ich selbst kämpfe gerade gegen diese Angst und fürchte, dass genau das mich ins Abseits drängen wird. Angst, dass das alles für Leute wie mich, denen Selbstbewusstsein nicht gerade auf die Stirn geschrieben steht, unmöglich ist. Immer, wenn meine Eltern über meine Zukunft sprechen, als würde ich am Ende selbstverständlich doch in einem ganz normalen Beruf versauern, den ich zwar machen kann, den ich aber nicht liebe, stehe ich kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Denn das ist mein absoluter Alptraum. 
Alles was ich möchte, ist, dass mir jemand sagt: Kira, mach das, du kannst das, vertraue dir in dieser Angelegenheit einfach Mal vollkommen selbst! Ich glaube, das ist auch der Grund, warum ich heute hier bin. Ich sehe darin die letzte Möglichkeit, mir einen Tritt in den Hintern versetzen zu lassen.«
Mein Mundwinkel zuckte. »Also schön. Dann spreche ich jetzt ganz ehrlich. Ich glaube tatsächlich, sie gehören zu den Menschen, die tun können, was sie tun wollen. Ich glaube außerdem, dass sie in dieser Sache ihrem Bauchgefühl ganz und gar vertrauen können. Ich bitte sie darum: Tun sie es einfach! Fangen sie an!«
Nach kurzem Zögern, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

15. September 2540
»Dr. Anderson? Da ist was für sie angekommen.« Mrs. Windham, meine Sekretärin, reichte mir einen Briefumschlag. »Steht kein Absender drauf«, sagte sie und schlurfte mit dem Kaffeetablett wieder davon. Ich öffnete den Umschlag und zog neugierig einen Zettel daraus hervor.

Ich habe es geschafft. Und es war schwer. Aber ich habe es trotzdem geschafft. Dies ist ebenso ihr Erfolg, wie meiner. Danke für ihr Vertrauen,
Kira

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Hanna M. C. Pfannes, 18 Jahre