Sonnenaufgang

Wettbewerbsbeitrag von Natalie H., 17 Jahre

Mila öffnet die Tür so vorsichtig, als ob sie Angst hätte, jemand stünde mit einer Sense dahinter, um sie sauber zu köpfen. Oder, als hätte sie Angst, dahinter erwarteten sie alle ihre Freundinnen und Verwandten für eine Willkommen-zurück-aus-der-Klapse-Party.
Zweiteres wäre wohl das Schlimmere für sie.
Nicht, dass sie ihre Freunde nicht sehen will, aber seit dem Vorfall steht sie nicht mehr gerne im Mittelpunkt, viel zu viele Menschen.
Mila hat sich verändert. Meine Gefühle für sie sind gleichgeblieben, beziehungsweise würde ich eher sagen, die letzten beiden Jahre haben uns nur noch mehr zusammengeschweißt. Aber sie hat sich verändert, und das ist gut so, weil es ihr besser geht dadurch. Als ob die Schnitte auf ihrer Haut gleichzeitig ihr Wesen zerfetzt und auf eine andere Art und Weise zusammengesetzt haben.
„Komm schon“, sage ich leise und lege sanft einen Arm um ihre Taille, um meine Freundin mit mir in unsere Wohnung zu ziehen. Ich weiß, dass das hier schwer ist für sie, deshalb will ich helfen, so gut es geht.
Und inzwischen ist sie stark genug dafür.
Im Flur nehme ich ihr die Jacke ab und stelle ihren riesigen türkisblauen Koffer in die Ecke neben dem Schuhegal. Mila steht mitten im Flur und schaut sich um. Es hat sich nicht sonderlich viel geändert seit sie das letzte Mal hier war, obwohl das nun schon fast zwei Jahre her ist. Sie war diejenige, die Ahnung von Einrichtung und so einem Zeug hatte. Wenn ich versucht hätte, irgendetwas hier zu ändern, wäre sie bei diesem Anblick wohl sofort wieder umgedreht.
Nein, viel habe ich nicht verändert, zumindest nichts, was sofort jedem auffällt.
Ich weiß aber, dass es ihr sofort auffällt.
„Du hast die Fotos abgehängt“, flüstert sie auch schon und geht langsam auf die Wand gegenüber der Tür zu. „Hmh“, mache ich zustimmend und stelle mich hinter sie, worauf sie sofort ihren Kopf an meine Schulter lehnt und ich meine Arme um sie schlinge. Ich wünschte, ich könnte ihren Gesichtsausdruck sehen, um zu wissen, ob es ihr gefällt. Aber eigentlich kenne ich sie so gut, dass ich weiß, dass es das tut.
Früher, da hingen hier die Fotos von ihren wichtigsten Jobs. Covershootings für die Vogue, Walks für Prada auf der Pariser Fashion Week, ihre Zeit bei Victorias Secret. Gestellte Fotos von einem äußerlich perfekten Mädchen.
Jetzt sind da nur noch Fotos von ihr und ihrer Familie, Mila mit einem Schlauch in der Nase, völlig entkräftigt an die Schulter ihres Bruders gelehnt, ein Foto von ihr mit ihrer besten Freundin aus der Therapie, beide mit einem riesigen Grinsen im Gesicht, sie und ich bei der Hochzeit ihres Bruders vor zwei Monaten, meine Krawatte passend zu ihrem Kleid. Die Fotos sind alle nicht älter als ein Jahr, denn die ersten fünf Monate im Krankenhaus durfte sie sich kaum bewegen und konnte nur im Bett liegen, und das anschließende erste halbe Jahr in der Psychiatrie, von ihr liebevoll „Klapse“ genannt, ist wahrscheinlich mit die schlimmste Zeit ihres Lebens gewesen.
Erst danach, nach dem ersten halben Jahr in der Psychiatrie, ging es bergauf und sie konnte wieder richtig lachen. Nicht das gestellte Fotolächeln für Gucci und auch nicht das „sorg dich nicht, mir geht’s gut“ Lächeln, das irgendwann davor das einzige gewesen ist, das ich noch von ihr bekommen habe.
Mila dreht sich in meinen Armen um und strahlt mich an. Ein richtiges, echtes Strahlen. „Das ist wunderschön, Lorenz, danke!“
Meine Mundwinkel heben sich automatisch, einfach nur deshalb, weil meine Freundin lächelt, weil sie bei mir ist und in meinen Armen liegt und so, so lebendig ist.


„Ich habe überlegt, ob wir vielleicht umziehen wollen“ schlage ich schließlich das vor, worüber ich schon seit Ewigkeiten nachdenke, während wir langsam ins Wohnzimmer gehen. „Vielleicht ist eine andere Umgebung-“
„Lorenz!“, unterbricht sie mich entschieden, „Ich liebe diese Wohnung. Okay, ja, bis vor ein paar Minuten hab´ ich noch gedacht, ich würde es nicht schaffen, meinen Fuß über die Türschwelle zu setzen“, sie lächelt schief, als wäre sie verlegen, „aber ich kann es doch. Mit dir. Diese Wohnung ist unser Zuhause, obwohl ich während der Therapie nicht herkommen wollte, weil ich Angst hatte, sie würde mich in meinem Fortschritt zurückwerfen. Aber hier ist nicht nur Schlechtes passiert, Schatz. Wir haben so, so viel Schönes erlebt in dieser Wohnung, und vorerst würde ich gerne bleiben. Vielleicht können wir ja irgendwann woanders hinziehen, wenn ich tatsächlich einen Job bei dieser Firma für Mental Awareness bekomme, die agieren nämlich gar nicht in LA. Aber bis dahin würde ich gerne hierbleiben.“
Sie holt tief Luft nach diesem Monolog, aber eigentlich muss sie mir ihre Entscheidungen gar nicht erklären. Ich bin da zu Hause, wo Mila zu Hause ist, und inzwischen vertraue ich ihr auch wieder so weit, dass ich weiß, dass sie mir sagen würde, wenn irgendetwas nicht okay ist.
Es gab eine Zeit, in der das nicht so war.
Als der Druck, immer dünner zu sein, weil es irgendein Kunde so wollte, immer größer wurde oder der Konkurrenzkampf unter den Models immer aggressiver war. Als Mila angefangen hat, nach dem Essen unauffällig auf die Toilette zu verschwinden, um ihr Essen wieder loszuwerden. Als sie irgendwann angefangen hat, aus Versehen mit der Rasierklinge danebenzuschneiden, um etwas zu fühlen außer Hunger, an den einzigen Stellen, die auf dem Laufsteg niemand sieht. Denn als Model darf man keine Narben haben.

Sie hat sich abgeschottet, wollte nicht reden, und ich mache mir bis heute Vorwürfe, dass ich damals so blind gewesen bin und nicht bemerkt habe, wie schlimm es war.
So unfassbar blind.
Obwohl die Therapie, zu der ich gegangen bin, wirklich weitergeholfen hat, was die Selbstvorwürfe betrifft, sind sie immer noch da.
Jedenfalls ist der ausschlaggebende Punkt für die Einweisung gewesen, dass sie umgekippt ist, mitten auf dem Catwalk, für Yves Saint Laurent.
Es ist ihr so, so unangenehm gewesen, aber alle Leute, die es wirklich etwas angeht (wobei ich die Firma, die Veranstalter und die meisten anderen Models da ausschließe), haben sich nur Sorgen gemacht.
Dann ist sie ins Krankenhaus gekommen, für fünf Monate. Diagnose krankhafte Unter- und Mangelernährung. Dem Krankenhaus folgten eineinhalb Jahre Intensivtherapie in einer Psychiatrie.
Ich weiß nicht, was in ihrem Kopf vor sich geht, aber ich weiß, dass es ihr schon lange nicht mehr so gut ging wie jetzt, wo der ganze Druck aus dem Showbusiness weg ist und sie weiß, was sie beruflich stattdessen machen will. Sie will anderen Menschen helfen, damit es ihnen nicht so ergeht wie ihr selbst. Mila hat sich da rausgekämpft und will anderen Betroffenen helfen, dasselbe zu schaffen, ihnen zu sagen, dass es keine Schande ist, sich Hilfe zu suchen, sondern stark.
Und ich bin noch nie, nie in meinem Leben so stolz auf die Frau an meiner Seite gewesen, wie jetzt.
Weil ihr Glück so viel mehr Wert ist als ein Leben im Rampenlicht.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Natalie H., 17 Jahre